Die Entscheidung, Maler zu werden
Ein paar Jahre später brachte mir der Film Ein Amerikaner in Paris die Offenbarung: Ich sollte Maler werden. In Tanger gab es, abgesehen von Coca-Cola und Kinos, auch Gemäldegalerien. Die Betrachtung der Bilder erinnerte mich an meine Kindheit, als ich die Verpackungen der aus Spanien importierten Lebensmittel anschaute, die mit den Nachdrucken der großen Gemälde von Goya, Murillo oder Velázquez illustriert waren. Diese Bilder bewegten mich mit ihrer grafischen Schönheit. Eingebrannt in mein Gedächtnis und meine Erinnerungen an Jugendzeiten zwischen Traum und Wirklichkeit, wurden sie zum Beweis meiner Berufung: ein Maler wie sie zu werden. Zwischen der Erinnerung an die mit Goya- und Velázquez-Bildern dekorierten Produkte und der Entdeckung eines kleinen Nachdrucks von van Gogh in einer Buchhandlung in Tanger begann meine beruflichen Laufbahn Struktur und Form anzunehmen.
Hintergrund
Ich wurde in Asilah geboren, einer kleinen Stadt an der Atlantikküste im Norden von Marokko, 40 Kilometer von Tanger entfernt. Dieser Ort ist voller Mausoleen von Marabouts – die markieren die vier Himmelsrichtungen und begrenzen das Stadtgebiet. In diesem Umfeld konnten wir uns frei bewegen, ohne die spirituelle sufistische Verbindung zu verlieren, die uns moralische Stabilität verlieh. In einem Meer von ursprünglichen, heimischen und neuen westlichen Einflüssen auf Sicht fahrend, stand ich meinem ersten Dilemma gegenüber, als ich die Welt der Kunst betrat. Ziel war die Hochschule für bildende Künste. Ziel war es, danach Marokko zu verlassen. Dazu musste man nach Europa gelangen, nach Spanien gehen. Ende der 1950er Jahre boten die Kunstakademien in Sevilla und Madrid, wo ich mich mit dem Einmaleins der bildenden Künste vertraut machte, eine strenge akademische Ausbildung an. Die Unterrichtsmethoden stammten aus dem 18. Jahrhundert: In Zeichen- und Modellierkursen bildeten wir in einem vom klassischen ikonografischen Erbe geprägten Ambiente den menschlichen Körper in seinen idealen Konturen und Rundungen nach.
Die Grundlagen der Ästhetik schätzen zu lernen und zu beherrschen, ist wichtig in der Tradition der bildenden Künste. Doch wo war die Kunst als Garant für die Spiritualität und das Erbe der Zivilisationen, die ich in mir trug? Emigrieren, um zu lernen, war also problematisch – und das, obwohl der Islam sein Wissen aus weiten Reisen geschöpft hatte, die mitunter sogar bis nach China führten. Die europäischen Kunstakademien stützten sich Anfang des 20. Jahrhunderts nach wie vor auf die klassische Ikonografie. Damals stand es noch nicht auf dem Programm, von anderen Zivilisationen zu lernen und sich beispielsweise anhand der Philosophie mit universellen Interpretations- und Darstellungsweisen auseinanderzusetzen.
Ein Dilemma
Nach zehn Jahren der Karriere in Spanien, Italien, Frankreich und den USA kehrte ich in meine Heimat zurück, um meine im Ausland erworbenen Erfahrungen mit anderen zu teilen. Die einzige Möglichkeit, die sich mir bot, war es, Kunst an der Hochschule für bildendende Künste in Casablanca zu unterrichten. Doch auf welche Prinzipien und Techniken sollte ich mich stützen? Marokko ist nur 12 Kilometer entfernt von Europa und doch so vollkommen anders, was die künstlerische Praxis anbelangt.
Als wir begannen, über das pädagogische Programm nachzudenken,1 stolperten wir über das Fehlen einer Darstellungstradition in unserer Gesellschaft, in der die bildliche Repräsentation niemals von Interesse oder gar ein Kommunikationsmittel gewesen war.
Bevor die Buchreligionen in Marokko und Nordafrika Einzug hielten, wurden die Mythen und der Alltag nicht nach dem klassischen Kodex der griechischen oder römischen Antike dargestellt. Zur punischen Zeit war beispielsweise eine oft vereinfachte und abstrakte Stilisierung der Mythen und religiösen Symbole von Nordafrika vorherrschend. Der Islam wiederum hat entgegen gängiger Behauptungen niemals Darstellungsweisen kodifiziert oder gar ein Darstellungsverbot verkündet. Denken wir nur an den Löwenhof von Granada oder die Karaffen und Gebrauchsgegenstände in Tierform. Im 20. Jahrhundert wiederum begann Marokko sich durch den Einfluss des französischen und spanischen Protektorats den modernen Standards zu öffnen und sich daran anzupassen. Es regte sich allerdings Widerstand gegen die Benutzung der bildlichen Darstellung, da sie mit der Lebensart der Besatzer identifiziert wurde.