Das Manifest ist etwa DIN-A4-groß, aber ein wenig schlanker. Auf ihm sehen wir das Bild einer Kathedrale, die für die gotische Bauhütte steht. In dieser Bauhütte sollten sich aus Sicht der damaligen romantischen, falschen Rückerinnerungen an die Gotik die Handwerker zu einer gleichberechtigten Arbeitsgemeinschaft treffen und ein solches Gemeinschaftswerk errichten.
Wenn man sich in diese Abbildung vertieft, dann sieht man, dass in der Spitze der Kathedrale durch Strahlen drei Sterne entstehen. Heute wissen wir, dass sie für die drei wichtigsten Künste stehen: Malerei, Architektur und Skulptur. Das heißt, dass in der Kathedrale laut der Vision des Bauhauses oder von Walter Gropius die Künste zusammenkommen und ein gemeinsames Bauwerk schaffen, das gleichzeitig ein großes Kunstwerk ist.
Nach Aufschlagen des Manifests beginnt der eigentliche Text, eine Grundsatzerklärung, die durch den häufig zitierten und in gesperrter Schrift gedruckten Satz eingeleitet wird: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau.“ Hier wird also die Architektur in den Vordergrund gestellt und zum wichtigsten Ziel erklärt, und das spiegelt sich auch in dem Wort „Bauhaus“ wider. Viele, mich eingeschlossen, sind der Meinung, dass die Erfindung dieses wunderbar schlagkräftigen Wortes mit zu den wichtigsten schöpferischen Leistungen von Gropius gehört – der Begriff „Bauhaus“ wird heute in keiner Sprache mehr übersetzt, sondern führt ein Eigenleben.
Der zweite wichtige Satz bezieht sich auf die Abbildung: „Architekten, Bildhauer, Maler: Wir alle müssen zum Handwerk zurück. (…) Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers.“ Wir finden hier also neue Relationen, eine neue Demut dem Handwerk, dem Machen gegenüber. Wenn die Studierenden schließlich das Programm aufschlugen, fanden sie darin noch einmal die Ziele des Bauhauses formuliert: das Einheitskunstwerk, den großen Bau. Dann folgten die Grundsätze des Bauhauses, zu denen beispielsweise auch Aufträge für Studenten gehörten, gemeinsame Planung, neue Versuche im Ausstellungswesen oder die Pflege freundschaftlichen Verkehrs, außerdem Theater, Vorträge, Dichtkunst, Musik, Kostümfeste, Aufbau eines heiteren Zeremoniells – also das, was wir heute „Kultur“ nennen würden.
Und erst auf der letzten Seite findet man dann den Lehrplan, das Curriculum, unterteilt in „Baukunst“, „Malerei“ und „Bildhauerei“. Schließlich gab es noch die handwerkliche Ausbildung, mit Aufzählung der einzelnen Werkstätten. Bildhauer, Steinmetzen, Stuckateure hat es eigentlich gar nicht gegeben, aber Holzbildhauer, Keramiker, Gipsgießer sind genannt, die es auch nicht gegeben hat, Tischler, Dekorationsmaler, Weber – das waren allerdings nur Weberinnen.
Für diese Werkstätten wird die die handwerkliche, aber auch theoretische Ausbildung schließlich noch einmal detaillierter beschrieben: Konstruktionszeichnen, Schriftzeichnen, Materialkunde, Farblehre, aber selbst Buchführung wurde hier gelehrt. Und zum Schluss werden die drei Stufen mit einem hierarchischen Aufbau zusammengefasst, bestehend aus den Lehrlingen, den Gesellen und den Jungmeistern – aus Letztgenannten konnten dann tatsächlich auch Meister werden.
Das wichtigste Ziel bestand natürlich darin, nach dem Ersten Weltkrieg neue Schülerinnen und Schüler zu gewinnen, und deshalb wurde dieses Manifest vielen Zeitschriften beigelegt oder auf Anfrage hin verschickt. Heute wissen wir, dass damit tatsächlich zahlreiche junge Menschen für das Bauhaus angelockt werden konnten, die unbedingt meinten: „Dort müssen wir hin!“ Dazu gehörten beispielsweise Josef Albers, aber auch Gunta Stölzl.
Es fand auch eine ungeheure Medialisierung und Modernisierung dieser Medialisierung statt. Vom ersten Tag an wurden ständig Zeitschriften, Flugblätter, Ausstellungen und Kataloge produziert oder Vorträge gehalten, um für die neue Sache zu werben. Und diese Medienoffensive des Bauhauses war ungeheuer wichtig.
Es gab zwar Manifeste, die aber bis dahin nur von den bildenden Künstlern geschrieben worden waren, zum Beispiel von den Expressionisten, der Brücke-Gruppe. Viele der darin enthaltenen Inhalte wurden von Walter Gropius aufgenommen. Die wichtigsten seiner Ideen liegen aber nicht so weit zurück, sondern entstammen dem 1918 gegründeten Arbeitsrat für Kunst, in welchem auch andere Architekturkollegen ganz ähnliche Gedanken formuliert haben. Da (im Bauhaus-Manifest) steht zum Beispiel sinngemäß: „Es gibt keine Grenze zwischen Kunstgewerbe und Plastik oder Malerei. Alles ist eins: Bauen.“ Und das wurde nicht von Gropius, sondern von Bruno Taut formuliert. Also hat Gropius sehr viele dieser Ideen, die wenige Monate zuvor im Arbeitsrat entwickelt und auch gemeinsam diskutiert worden sind, aufgenommen und noch einmal neu, frisch und attraktiv formuliert.
Wir können uns heute meiner Meinung nach gar nicht mehr vorstellen, was zum Beispiel die Flucht des Kaisers bedeutet hat. Das bedeutete ja den Zusammenbruch eines ganzen Systems. In der Folge brachen die Russische und die Deutsche Revolution aus, Deutschland wurde in eine Republik verwandelt. Die Wucht dieser ungeheuren Umbrüche können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen. Und diese drastischen Veränderungen haben einem auch bewusst gemacht, dass es so nicht mehr weitergehen kann und dass man neue Denkräume, neue Gestaltungsräume öffnen muss. Und in diese Räume ist Gropius mit seinem Manifest vorgestoßen.
Dem entsprach auch die Wahl der Lehrer, die ja zu den künstlerisch-radikalsten Kräften ihrer Zeit gehörten. Aber wenn man die eigene Geschichte ablehnt, aus welcher ja bis zum damaligen Zeitpunkt die Grundlagen des Entwerfens entnommen worden sind – aus den Bautypen, aus den Dekorationsformen –, worin liegen dann die Quellen des Entwerfens? Somit stand man vor der ungeheuren Aufgabe, eine neue theoretische Grundlage für die Gestaltung zu liefern, die nicht mehr in der Geschichte liegen konnte. In der Folge entstand nach und nach eine Einigkeit, dass das die Grundfarben sein könnten, dass das die Grundformen sein könnten, dass das ein naturhaftes Gestalten sein könnte wie bei Paul Klee, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen könnte wie bei Oskar Schlemmer.
Jeder der Meister entwickelte auf dieser antihistorischen Grundlage seine eigenen Ansätze. Johannes Itten hatte natürlich in seiner Stuttgarter und Wiener Zeit Wassily Kandinskys Bücher von 1912 gelesen und dort auch die Ideen der Grundformen entnehmen können. Diese Ideen führte er mit der Lehre, die er von Adolf Hölzel über die Elementarisierung der künstlerischen Mittel lernte, zusammen und entwickelte daraus den ersten Grundkurs beziehungsweise die erste Grundlehre.
Josef Albers hat in seinem Kurs natürlich sehr vieles integriert, was er zuvor bei Johannes Itten selbst gelernt und beobachtet hat. Es kommt aber ein neues Element bei ihm hinzu, und das ist eine Art „Ökonomie“: Die Studierenden dürfen keinen Abfall produzieren, es darf keinen Verschnitt geben, es muss also ökonomisch gedacht und entworfen werden. Der Student ist nicht mehr aufgefordert, sich selbst zu entdecken, sondern ganz pragmatisch eine Aufgabe zu lösen – beispielsweise ein liegendes Stück Papier so zu bearbeiten, dass es alleine stehen kann. Oder einen liegenden Draht derart zu biegen, dass er eine Stabilität erlangt und zu einer kleinen Konstruktion wird.
Meiner Ansicht nach wird Hannes Meyer in seiner Politik immer noch unterschätzt, auch seine Entscheidung für das Engagement von Walter Peterhans, ein ganz wichtiger Aspekt seiner neuen Berufungspolitik. Peterhans interessierte sich sehr – und unterrichtete das dann ja auch – für eine ganz genaue Kontrolle des Entwicklungsvorgangs, der Präzision, Details aufzunehmen. Das sind Dinge, die László Moholy-Nagy überhaupt nicht interessiert haben, welcher kein Interesse für das Entwickeln gezeigt hat. Aber diese Präzision und diese Berechenbarkeit waren auch Hannes Meyer zu eigen und haben ihn mit Peterhans verbunden. Zusätzlich kam dann schließlich noch eine neue ästhetische Qualität in das Bauhaus, weil Hannes Meyer einen sehr bewussten Umgang mit der Fotografie pflegte.
Das Curriculum hat sich praktisch ständig verändert und lässt sich nicht leicht von Semester zu Semester verfolgen. Ein Abitur war nicht notwendig, man konnte eine handwerkliche oder gar künstlerische Vorbildung haben. Das Publikum an Studierenden war nicht homogen, sondern im Besitz von unterschiedlichsten Ausbildungswegen. Und alle suchten das Neue, also tatsächlich das, was Gropius am Bauhaus angeboten hat.
Mit dem Beginn der Weimarer Republik hatten die Frauen endlich die Lehrfreiheit bekommen, sie konnten also jegliche Schule besuchen. Und so kamen dann auch sehr viele Frauen an das Bauhaus, die von Gropius in seiner ersten Rede tatsächlich auch explizit begrüßt wurden, keinen Unterschied zwischen dem „schönen und starken Geschlecht. Absolute Gleichberechtigung, aber auch absolut gleiche Pflichten. Keine Rücksicht auf Damen. In der Arbeit alle Handwerker.“ Es gab dann eine ganze Reihe von Ansätzen und Auseinandersetzungen mit dieser großen Zahl von Frauen. Einerseits wurden sie zurückgewiesen, andererseits haben die Frauen selbstständig eine Frauenklasse gegründet. Viele von ihnen empfanden auch die Arbeit in der Textilwerkstatt als ganz wichtig und zentral.
Es gab 1919 gar keine anderen Möglichkeiten, als zuerst mit dem Handwerk anzufangen, weil die Industrie zu dem Zeitpunkt am Boden lag: Die Fabriken waren zerstört und alles musste neu aufgebaut werden – und so konnte man wirklich nur mit dem Handwerk beginnen. Die Schülerinnen und Schüler sollten ja gerade erst durch die Beschäftigung mit einem Handwerk in einer Werkstatt zum Bau qualifiziert werden, mit dem Ziel, diesen dann gemeinsam auszuführen. Walter Gropius wollte immer exemplarisch bauen, und es sollten Modelle entstehen, an denen andere ihr Maß nehmen konnten. Und nur das ist die Funktion einer Schule: Sie kann nicht ständig Bauten errichten – darin bestand ja immer der Konflikt zwischen Produktion und Lehre. Und genau dieser Konflikt war aber über viele Jahre sehr fruchtbar und einflussreich.