„Der indische Staat besteht erst seit 13 Jahren. Und schon wäre die Weltgeschichte nicht mehr denkbar ohne seinen unorthodoxen Einfluss. Indien hat im letzten Jahrzehnt mehr neue Inhalte geliefert als irgendein anderes Land. Von ihm, nicht von Russland, wurde die Konzeption der Koexistenz ins Gespräch gebracht. Es hat die Auffassung der positiven Neutralität etabliert. Es hat die Gewaltlosigkeit konzipiert, die Idee der dritten Kraft, der Bündnisfreiheit gegenüber den Machtblöcken. Es hat die klassische Diplomatie und die Politik der Macht aufgeweicht. Sein Weg der Entlassung aus dem Kolonialismus war Beispiel für eine ganze Reihe von Staaten. Es hat politische Persönlichkeiten von ungewöhnlicher moralischer Autorität hervorgebracht: Gandhi und Nehru. Obwohl es eine spekulative Behauptung ist, spricht einiges dafür, dass wir ohne Indien heute in einer massiven Auseinandersetzung zwischen Ost und West stünden.“1
Zur Ahmedabad Declaration. Gajanan Upadhyaya Bestuhlung des Auditoriums im NID 1978, Foto: Bauhaus Lab 2017.
Otl Aicher, Impressionen von seiner Reise nach Indien, 1960.
Foto: Otl Aicher, 1960, © HfG-Archiv/Museum Ulm.
Otl Aichers Bericht über seine Indienreise 1960 mit dem seltsamen Titel „Voraussetzungen der Erschließung“ ist ein faszinierendes Dokument der Stimmungslage einer Generation, die Nationalsozialismus und Krieg erlebt hatte und mit Sorge die geopolitischen Spannungen des kalten Krieges beobachtete. Es ist ein Bericht über die wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Situation des Landes, nicht frei von Exotismen und doch zugleich voller Sympathie für das Modernisierungsstreben des Subkontinents. Neben diesem Schreibmaschinenmanuskript existiert im Ulmer Archiv ein weiteres Dokument dieser Reise: „Indien 1960 – Gedanken anläßlich eines Indienbesuches im Mai 1960“. Hier macht der Gestalter in Skizzen und Texten bereits konkrete Vorschläge zur Lösung von Verkehrsproblemen, zur Organisation von Siedlungsstrukturen und zum Hausbau. Die Dias die Aicher während seiner Reise quer durch das Land machte sind beeindruckende Momentaufnahmen eines Landes im Umbruch.
Aus heutiger Sicht lesen sich die Materialien der Reise des HfG-Gründers Otl Aicher wie die Ouvertüre zu einer Zusammenarbeit zwischen zwei Gestaltungsschulen, welche die Nachkriegsmoderne in Design und Architektur nachhaltig mitbestimmten: Die Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm und das National Institut of Design (NID) in Ahmedabad.
Beide Campusse sind beispielhafte Plattformen des Ringens um eine zeitgemäße Gestaltunghaltung, die die Diskurse um die Moderne in Architektur und Design der 1950er und 60er Jahre generell bestimmte. Die amerikanische Architekturhistorikerin Sarah William Goldhagen sprach von einem „Anxious Modernisms“– der Suche nach gestalterischen Positionen in einer veränderten globalen Ordnung, geprägt durch westliche Massenkonsum- und Wohlfahrtgesellschaften, den Systemwettstreit zwischen Ost und West und neuen Allianzen im globalen Süden. Dass man in den 1950er Jahren Abstand zur „klassischen Moderne“ nahm, hatte nicht nur generationelle Ursachen, sondern vor allem gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Verschiebungen, zum Hintergrund die dem Gestalter eine neue Rolle zuwiesen.2 Neugegründete Universitäten und Hochschulen entstanden rund um den Globus als Teil jenes Versprechen moderner Gesellschaften, Bildung und sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Sie fungierten als Nährboden für Debatten, in denen es auch um die Wiedergewinnung einer kritischen, in den Alltag intervenierenden gestalterischen Praxis ging. Im geopolitischen Kontext von Kaltem Krieg und nationaler Unabhängigkeit bildeten die beiden Hochschulen – und eingebunden in internationale Netzwerke von Experten, Institutionen und Akteuren – besondere Orte der Neubestimmung des Verhältnisses von Design und Gesellschaft.
Nach dem Bauhaus: Ulm
Das Gebäude der Hochschule für Gestaltung Ulm, 1955/56.
Foto: Sigrid von Schweinitz, © HfG-Archiv/Museum Ulm.
Otl Aicher gehörte gemeinsam mit Inge Scholl und Hans Werner Richter zu den Gründern der HfG Ulm. Zunächst sollte die vom Geist des Antifaschismus bestimmte Hochschule eine neue junge Generation von demokratisch orientierten, der Öffentlichkeit verpflichteten Journalisten, Akademikern, Kulturakteuren und Publizisten hervorbringen. Die Idee einer solchen neuen und unabhängigen Schule ging zurück auf die von Inge Scholl initiierte Volkshochschule. Die Schwester der von den Nationalsozialisten ermordeten Geschwister Scholl hatte diese als Ort der politischen Debatte und demokratischen Bildung in Ulm etabliert. Die Suche nach einem intellektuellen und kulturellen Neubeginn nach dem Desaster des Nationalsozialismus musste, so Scholls Überzeugung, bei den Schulen beginnen. 1949 arbeitete Inge Scholl gemeinsam mit Otl Aicher und Hans Werner Richter an einem Curriculum für eine zeitgemäße und politische „Re-Education“. Dank ihres breiten internationalen Netzwerkes kamen sie auch mit Max Bill, ehemaliger Bauhaus-Student und Präsident des Schweizer Werkbundes, in Kontakt. Den Fokus auf eine politische Bildung sah Bill als zu exklusiv an. Seiner Meinung nach sollte der politische Anteil vielmehr als integraler Bestandteil der zu unterrichteten Fächer verstanden werden. Vor dem Hintergrund seiner genuin vom Werkbund geprägten Haltung begann für Bill politische Bildung im Alltag, im Umgang mit Dingen des täglichen Gebrauchs, in der Stadtplanung und Architektur. Bill wurde der Direktorenposten der Schule angeboten, auch vor dem Hintergrund des kulturellen Kapitals, das seine Bauhausvergangenheit und seiner Beziehung zu Walter Gropius bei den amerikanischen Alliierten besaß. Paul Betts stellte heraus, dass das Bauhaus als kultureller Repräsentant einer vom Nationalsozialismus nicht kontaminierten Vergangenheit, nämlich der Weimarer Republik, eine liberal demokratische Traditionslinie für die Neuorientierung am westlichen Liberalismus bot. Vor allem Walter Gropius nahm eine besondere Position in der westdeutschen/amerikanischen Kulturpolitik nach 1945 ein. Gropius und das „amerikanisierte“ Bauhaus verkörperten, so Betts, nun nahezu idealtypisch, worum es in der Kultur des Kalten Krieges – nämlich der Westbindung der BRD auf kulturellem Terrain ging: Antifaschismus, Antikommunismus, internationale Moderne. Die Bereinigung und Depolitisierung der Bauhausgeschichte von einer mit linken Tendenzen verwobenen Vergangenheit war Teil dieser Strategie.3 Vor diesem Hintergrund stellte das Bauhaus für die Gründung der HfG ein überzeugendes und kaum hinterfragbares kulturelles Erbe dar, dass auch die Finanzierung der Schule mit Mitteln des amerikanischen Re-Education Fonds begründen half. Zur Eröffnung des von Max Bill entworfenen Campus auf dem Ulmer Kuhberg waren viele ehemalige Bauhausakteure, auch Walter Gropius, anwesend. Doch so kulturpolitisch bedeutsam deren Unterstützung für die Formierung der HfG anfangs gewesen sein mag, in seinem Curriculum, seiner Architektur und seinen Produkten rang die Schule permanent um einen zeitgemäßen Bezug zum Bauhaus.
Das von Bill entworfene Hochschulgebäude gilt als Modell des kooperativen Zusammenwohnens und -arbeitens von Studenten und Dozenten. In seiner Organisation und Struktur zieht es Bezüge zum Bauhausgebäude in Dessau, verweigert aber in seinem Rationalismus radikal Hierarchien, Repräsentativität und Subjektivität im und am Bau. Auch das Curriculum steht in den Anfangsjahren noch in der Traditionslinie des Bauhauses: So gab es auch hier eine Grundlehre – zunächst von Josef Albers (der bereits am Bauhaus den Vorkurs unterrichtete) und Walter Peterhans (ehemaliger Leiter der Fotoklasse am Bauhaus) unterrichtet, und die Ausbildung fand – angelehnt an das Bauhaus – in Werkstätten statt. Aber während Max Bill einen „Artist-Designer“ als kultureller Vermittler zwischen Industrie und Markt ausbilden wollte, dessen Aufgabe in der Gestaltung guter Formen alltäglicher Gebrauchsgegenstände als „kulturelle Güter“ bestand, nahm sein Nachfolger, der Argentinier Tomás Maldonado Abstand von Bills moralischem Idealismus. Worum es ihm ging, war eine Schule, die die aktuellen Aufgaben des industriellen Designs bearbeiten konnte und dem Gestalter eine vollkommen neue Rolle zuschrieb. Der Designer sollte dabei als Koordinator zum aktiven Partner der modernen Industrie werden.4 Seine konsequent wissenschaftliche, an rationalen Kriterien ausgerichtete Gestaltungslehre, die Vermittlung neuester technischer Kenntnisse und die Einführung von sogenannten Entwicklungsgruppen fand zwar international Anerkennung. Im intellektuellen Klima Nachkriegsdeutschlands aber galt dies als umstritten, denn der Glauben an technologischen Progress war durch die Tötungsmaschinen der Nazis und die Atombombe zutiefst erschüttert worden. Die Ulmer wiederum konnten mit dieser Aversion gegen Wissenschaft und Technologie wenig anfangen, schließlich war es auch das nationalsozialistische Erbe, in der Ästhetik und Politik eng miteinander verbandelt waren, was die Ulmer zu einer an Wissenschaft und Rationalität begründeten Gestaltungshaltung zwang.5 Unterstützt durch ein Netzwerk internationaler Gestalter und Theoretiker wie Abraham Moles, Bruce Archer, Charles Morris oder Charles und Ray Eames trieb man hier eine Designkultur voran, die sich gegen die Flut an massenproduzierten Konsumgütern mit rational begründbaren Gebrauchsgütern stemmte.
Grundlehre bei Tomás Maldonado, HfG Ulm 1955.
© HfG-Archiv/Museum Ulm.
In der hauseigenen Zeitschrift ulm fragt Maldonado 1963, ob das Bauhaus noch aktuell sei. Mit gewissen Einschränkungen wäre diese Frage zu bejahen: nicht das eingeführte Bauhaus als pädagogische Institution oder Kunst- und Architekturbewegung der 20er Jahre, sondern der Versuch „eine humanistische Sicht auf die technische Zivilisation freizulegen“ sei heute wieder aktuell. Gegenüber einem eher restaurativen Verständnis des Bauhauses im Nachkriegsdeutschland forderte Maldonado „eine schonungslose Gewissensprüfung“ der Gründe, warum das Bauhaus dreimal geschlossen wurde. Gleichwohl der von Hans Maria Wingler herausgegebene, umfassende Band zum Bauhaus dazu beiträgt, wird erneut kaum Notiz vom Wirken Hannes Meyers genommen, der gerade für die HfG Ulm als Vorbild gelten müsste.6
Die Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis des Bauhauses bildet schließlich so etwas wie das Basso continuo der Schule auf dem Kuhberg. Während Maldonado Abstand vom „expressionistischen Bauhaus“ nahm, welches aus seiner Sicht sein Vorgänger Max Bill sowie die an der Schule noch unterrichtenden ehemaligen Bauhäusler mit einem unzeitgemäßen neo- akademischen Formalismus vertraten, musste sich Max Bill schon in der Gründungsphase der Ulmer Hochschule mit Vorwürfen von Seiten der Künstlergruppe bauhaus imaginiste auseinandersetzen. So ist der Briefwechsel zwischen Asger Jorn und Max Bill – ersterer wollte mit der internationalen Bewegung eines Imaginären Bauhauses das freie Experiment, die Ekstase des Ausdrucks, die Verschwendung im Spiel befördern – ein beeindruckendes Dokument der kulturellen Auseinandersetzungen dieser Jahre, der Missverständnisse, Irritationen und Divergenzen.7 Sie sind als Suchbewegungen einer neuen Generation zu verstehen, die mit Massenkonsum, kalten Kriegsfrontstellungen und Umweltzerstörung konfrontiert danach fragt, wie das Bauhaus im Nachkriegseuropa als Moderne zu beerben sei. Während Jorn vom Bauhaus als „künstlerischen Inspiration“ sprach, stritt Bill dies vehement ab: „Das Bauhaus ist nicht der Name einer künstlerischen Inspiration sondern die Bezeichnung für eine Bewegung, die eine sehr wohl definierte Doktrin repräsentiert.“8 So unzeitgemäß das Festhalten des Ulmer Instituts an den Prinzipien funktionaler, rational und wissenschaftlich begründbarer, systematisch begründeter Gestaltung angesichts der international wachsenden Kritik am Funktionalismus war – begonnen bei den von Team X initiierten Nachkriegsdebatten des CIAM bis hin zu den Debatten um die Rolle des Handwerks in Konferenzen wie Asilomar Kalifornien zwischen Marguerite Wildenhain und Charles Eames 19579 – so wichtig war die Ulmer Position: „Bill`s endeavor to re-enchant everyday commodities as unaliennated ‚cultural objects’ and Maldonado’s attempt to rationalize design education as an alternative, engaged consumer science were related responses to the cultural crisis of the postwar design object.“10
Als auf dem Höhepunkt der internationalen Studentenproteste 1968 die Ausstellung „50 Jahre Bauhaus“ eröffnete und Gropius eine Rede hielt, wurde er vor den gegen die Schließung der Hochschule für Gestaltung Ulm protestierenden Studenten nicht verstanden. Es war ein besonderer historischer Moment, bei dem musealisiertes Bauhaus auf lebendige Nachfolginstitution traf. Die kulturellen Orientierungsnöte, Generationenkonflikte und Identitätsdebatten der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in die das Ringen um die kulturelle Einordnung des Bauhauses nun einmal eingebettet ist und an denen die Ulmer Hochschule letztendlich zerbrach, wurden hier öffentlich ausgetragen. Gropius’ Rede mit seinem Appell an die HfG-Studenten, sich nicht um Politik sondern um ihre Expertise als Gestalter einer neuen Ästhetik zu kümmern konnte vor diesem Hintergrund nur Missverständnisse hervorrufen.11
Hans Gugelot, Curriculum für das NID, 1965.
© Archiv Gugelot, Hamburg.
Design für die Unabhängigkeit NID
Zwei Jahre bevor Otl Aicher seine Reise nach Indien unternahm, hatten Charles und Ray Eames im Auftrag des Präsidenten des jungen unabhängigen Indiens, Jawaharlar Nehru, und gefördert von der amerikanischen Ford Foundation 1958 den „India Report“ vorgelegt.12 Das Zustandekommen dieser Kooperation geht vor allem zurück auf Pupul Jayakar, Gründerin des All India Handicraft Board und ihren Kontakten zu den einflussreichen Textilunternehmerfamilie Sarabhai in Ahmedabad, der Hauptstadt der indischen Textilindustrie. Der heute als Gründungsdokument des National Instituts of Design geltende Bericht sollte Bedingungen und Möglichkeiten einer modernen Designbildung im unabhängigen Indien untersuchen und Vorschläge für das Curriculum einer Gestaltungsschule unterbreiten. Die Modernisierungsagenda Nehrus schloss auch eine aktive Design- und Architekturpolitik ein. Massive Infrastrukturprojekte, der Ausbau der großen Industrie, die Förderung moderner Bildungseinrichtungen – all dies war Teil der staatlichen Fünfjahrespläne, mit denen ein modernes Indien seine koloniale Vergangenheit hinter sich lassen wollte. Moderne Architektur und Design waren nicht nur Symbolträger dieses Wandels, sondern selbst Agenten zur Einübung einer modernen Lebensweise.
Hans Gugelot mit Studenten am NID, 1965.
© Archiv Gugelot, Hamburg.
Gerade hier schienen sich auch politische Einflussmöglichkeiten für die Blockmächte in einem der „Non Alignment Movement “ verpflichteten Land anzubieten. Die für Indien konzipierte Wanderschau „Design Today in America and Europe“ (1959) des Museum of Modern Art in New York mit einem Best-of an westlichen Designs und präsentiert in einem von Buckminster Fuller entworfenen Kuppelbau ist nicht nur ein spannender Fall kultureller Diplomatie im Kontext des Kalten Krieges sondern auch Ausweis der politischen Bedeutung, die man der Gestaltung moderner Gebrauchsgüter beimaß. So war verabredet, dass die Exponate dieser Schau als Lehrsammlung dem neu zu gründenden Gestaltungsinstitut (dem NID) überlassen werden. Ähnlich der HfG Ulm war auch das NID von Beginn an als globale Plattform der Designausbildung konzipiert. Eine ganze Reihe von internationalen Fachleuten hatte sich dazu verpflichtet, den Aufbau des NID als erste moderne Gestaltungsschule in Indien zu unterstützen: Louis Kahn, Charles und Ray Eames, Alexander Girard, Claude Stoller, George Nakashima, Hans Gugelot, und andere, deren Beratertätigkeit großzügig von der amerikanischen Ford Foundation gefördert wurde. Zugleich – und das haben die Eames in ihrem Report herausgestellt – besaß Indien aber eine eigene Kultur der Gestaltung von Dingen des alltäglichen Gebrauchs: Der Lota, ein aus Ton gefertigtes Wassergefäß, wurde zur Metapher dieser von den Eames nicht ohne einen gewissen Exotismus bewunderten Kultur des Formgebens, Machens, Fabrizierens. So hatte das National Institute of Design von Beginn gleich zwei Aufgaben zu erfüllen: Auf der einen Seite sollte es Motor für ein modernes industrielles Produktdesign werden; zugleich sollte es aber auch an der Förderung und Verbesserung der lokalen „Cottage industries“ mitwirken. Im Curriculum des neuen Instituts waren deshalb die sogenannten „craft documentations“, Feldstudien der Studierenden zu lokalen Handwerkskulturen, fest verankert.
Allerdings war dies ein schwieriges Vorhaben auch und gerade deshalb, weil sich das NID als postkoloniales Design Institut verstand, das konsequent vom kolonialen Projekt des „Craft improvements“ Abstand nahm. „Design“ sollte sich als moderne Profession innerhalb der Bedingungen des Konsumgütermarktes in Indien entwickeln.13 Diese Suchbewegungen hatte später der sowohl an der HfG als auch am NID lehrende Kumar Vyas verschriftlicht, dass es, so Vyas, um einen postkolonialen Design-Diskurs ging, in dem das westliche internationale Nachkriegsdesign eine Ressource neben anderen darstellte, dessen Kern es jedoch war, landeseigene präkoloniale Design-Praktiken auszubilden. Diese Koexistenz von modernem Design-Denken und traditionellen Praktiken, die in dem Begriff „Kalaa“ – übersetzt: Einheit von künstlerischem, handwerklich-wissenschaftlichem und technischem Wissen – bereits angelegt war und erst im Zuge der europäischen Bildung der Arts and Crafts Bewegung verdrängt wurde, müsse die postkoloniale Designkultur bestimmen.14 Insofern war die Ausgangslage der beiden Pionierinstitutionen moderner Designbildung äußerst unterschiedlich: das NID als Flaggschiff eines neuen Indiens sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, einkommensschwache Konsumenten aus der zumeist ländlich geprägten Bevölkerung in das Design-Denken zu integrieren und zugleich den Dynamiken einer an der Industrialisierung orientierten Modernisierung zu entsprechen. Die Ulmer Hochschule dagegen rang um ein Verhältnis zwischen Konsumismus und moralischen Ansprüchen an die Gebrauchsgüterproduktion in einer vom Marshall-Plan und dem daraus resultierenden Wirtschaftswunder angetriebenen und unaufhaltsam wachsenden Konsumgesellschaft.15 Es sind also völlig konträre Problemhorizonte, vor deren Hintergrund die beiden Schulen nach Konzepten einer zeitgemäßen Designausbildung suchten. Doch gerade das Ulmer Institut bot für das NID, folgt man den Überlegungen Kumar Vyas’, eine Alternative gegenüber den kolonialen Hinterlassenschaften an.
NID Metallwerkstatt 1960er Jahre.
© KMC Photo Archive National Institute of Design.
Objektkonversationen: India Lounge und Milchkiosk
Als Hans Gugelot im Sommer 1965 nach Ahmedabad eingeladen wurde einen Workshop zu unterrichten, hatte er ein achtzigseitiges Papier für ein Curriculum im Gepäck, in dem er vorschlug, dass Studierende zunächst ein Diplom als Ingenieurwissenschaftler oder Architekten vorweisen sollten bevor sie ein stark praxisorientiertes Studium des Produktdesigns aufnehmen konnten. Im Sommerkurs sollte Gugelot gemeinsam mit indischen Kollegen und Studenten an einem „Tangential Fan“ (Querstromventilator) arbeiten. Folgt man den Zeilen, die Gugelot an seine Frau schrieb, so war der „India Lounge Chair“, den er gemeinsam mit indischen Kollegen wie Gajanan Upadhyaya entwarf ein Nebenprodukt dieses Workshops:
„Ich habe inzwischen einen kleinen Fauteuil gemacht das model ist Montag fertig. ganz einfach. Der Sitz ist Stoff bespannt nur vorne und oben befestigt, eingeschobene leisten (von unten) machen das es gut hängt…. und ich möchte zeigen das man mit einfachen Sachen auch ergebnisse hat.“16
Wahrscheinlich ist die niedrige Sitzhöhe inspiriert von den vor Ort entdeckten Hockern. Zugleich ist das leichte Möbel, das mit zwei Namen in die Designgeschichte eingegangen ist – India Lounge oder 24/42 Chair – hergestellt aus Teakholz und gewebtem indischen Textil ein formgebundener Dialog zweier Designhaltungen: des Systemdesigns der HfG Ulm und des „Low Cost Designs“ der indischen Gestalter. Eine Haltung, die in den folgenden Jahren die Arbeit des NID zunehmend prägte. So hatte M P Ranjan in den 1970er Jahren mit dem Center for Bamboo Initiatives zur Erforschung des lokalen Bambushandwerks einer Designkultur den Weg bereitet, die sich lokalen Problemen verpflichtet fühlt und deren Wissen und Erfahrungen in die industrielle Produktion übertragen werden sollte.
Hans Gugelot, India Lounge 1965.
© Archiv Gugelot, Hamburg.
Im selben Jahr hatte Sudhakar Nadkarni in Ulm seine Diplomarbeit für die Gestaltung eines Milchkiosks vorgelegt. Nadkarni stammte aus einer indischen Mittelklassefamilie und hatte an der Sir JJ School of Art Bombay angewandte Kunst studiert. Der Beruf des Industriedesigners entwickelte sich gerade erst in Indien. 1962 reiste Nadkarni nach Ulm, um unter anderem bei Hans Gugelot Produktdesign zu studieren. Während seines Studiums in Ulm begegnete er Kumar Vyas, der am Central Saint Martins College of Design in London studiert hatte.17 Beide würden später als Lehrer für Produktdesign am NID unterrichten. Nadkarni erlebte die HfG bereits in einem Stadium der konsequenten Orientierung auf eine am Zusammenwirken von Wissenschaft, Technik und Industrie ausgerichtete Gestaltungslehre. Auch er, der einen Beitrag zu den Modernisierungsprozessen seines Landes leisten wollte, war von dieser gesellschaftlichen Rolle des Designers überzeugt.
So ist schon die Wahl der Aufgabenstellung seines Diploms „Die Gestaltung eines Milchkiosks“ Ausweis des sozialen Bewusstseins des Designers, für die unmittelbaren Bedürfnisse der indischen Bevölkerung einen Beitrag leisten zu wollen. Die Diplomarbeit setzt sich aus zwei Teilen zusammen: einer wissenschaftlichen Analyse und einem Entwurfsteil. Er beginnt mit dem detaillierten Studium der Umgebung des Milchkiosks, seiner Lage im Stadtraum, seinem Verhältnis zum Verkehr, den Wohngebieten und der städtischen Infrastruktur. Im nächsten Schritt beschreibt er die soziale Zusammensetzung der Verbraucher, die Abläufe und Aktivitäten im Alltag eines solchen Verteilungszentrums. Dazu gehört eine in Bombay durchgeführte Befragung von Milchkioskbetreibern und Nutzern sowie eine Recherche zu den klimatischen Verhältnissen und Bewegungsabläufen im Kiosk.18 Dieses systematisch gewonnene Wissen bildet die Grundlage für den Entwurf des Milchkiosks. Das von Nadkarni ausgewählte Material ist kostengünstig, weil modular standardisiert, haltbar und in Indien vorhanden, die Größe ausreichend für zwei im Kiosk arbeitende Menschen. Funktionale, ergonomische aber auch klimatische Aspekte finden – in Hinblick auf die Nutzer – Berücksichtigung im Design. Obwohl die Umsetzung des Milchkiosks nicht über einen Prototyp hinausging, ist diese Abschlussarbeit nicht nur ein interessantes Dokument der Ulmer Methode, des systematischen Herangehens an eine Designaufgabe, in der wissenschaftliche Analysen den jeweiligen Gestaltungsschritt begründen. Nadkarnis Diplom bietet ganz unmittelbare Einsichten in die sozialen Umstände und materiellen Konditionen des jungen unabhängigen Indiens der 1960er Jahre, in dem die Infrastruktur der täglichen Milchversorgung tatsächlich ein Fundament für die Befriedigung von Grundbedürfnissen der Millionenmetropole darstellte. Getragen wird die Arbeit von einer auf dem Kuhberg in Ulm und in Ahmedabad/Paldi geteilten Überzeugung, dass nur ein rational begründetes Design, das sich mit den grundlegenden Systemen der Gesellschaft, der Infrastruktur, der Gesundheits- und Nahrungsmittelversorgung befasst, die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen auch ernstnehmen kann. Sie ist ein herausragendes Dokument für eine Gestaltungshaltung, die Design als Werkzeug zur Verbesserung des Alltags der Vielen begreift.19
Sudhakar Nadkarni, Modell eines Milchkiosks 1964/65.
Foto: Sudhakar Nadkarni, © HfG-Archiv/Museum Ulm.
Nachsatz
Während die Ulmer Hochschule den Zerreißproben nicht mehr standhalten konnte, die Generationenkonflikte, kulturelle Krisen und politische Auseinandersetzungen im Kontext weltweit aufflammender Studentenproteste 1968 hervorgebracht hatten, verfolgte das NID weiterhin die in den Gründungsjahren formulierte Designagenda. Die 1979 im National Institut of Design Ahmedabad veranstaltete internationale Konferenz „Design for Development“ bildete den Höhepunkt dieses Designdiskurses, der Abstand vom hegemonialen westlichen Designparadigma nehmen wollte. Im Kontext westlicher Exporte von Modernisierungsmodellen in die Entwicklungsländer suchte man nach alternativen Praktiken für einen wirtschaftlichen und sozialen Wandel. In Ahmedabad sprachen sich die internationalen Delegierten für ein postkoloniales Verständnis von Design aus. Man wollte sich nun von der westlichen Hegemonie, die Design mit formalen ästhetischen Wertvorstellungen verband, loslösen und sich stattdessen vernakulären und „appropriate technologies“ ausgerichteten Gestaltungsweisen von Gebrauchsgegenständen zuwenden.
Saloni Mathur hat diesen Wandel innerhalb der Designkultur „with proposals for adapting indigeneous foms from the tiffin lunch box tot he automated richshaw entering conventional design media“ als „design in an Indian idiom“ beschrieben. 20 Das schloss auch die Kritik an einer Designausbildung ein, die am technokratischen Funktionalismus und auf formale Ästhetik ausgerichtet war. Die Ahmedabad Declaration, so Alison Clarke, sprach sich dafür aus, „design as a tool for social change withim a humanist paradigm that crossed both post-industrial and so- called developing nations.“21 Hier formierte sich nun eine „ alternative design movement underpinned by theories of anthropology, intermediate technology, development studies and Neomarxist critique of Western consumer culture.“22 Hatte sich das National Institute of Design von seinem, wie es Saloni Mathur nennt, „problem-solving spirit of the Nehruvian era“ verabschiedet, zu dem auch seine Allianz mit dem Ulmer Institut gehörte? Wenn heute die die Ahmedabad Declaration im Designdiskurs zum Social Design und Crtitical Design eine Neubewertung erfährt, dann haben die Konversationen und Missverständnisse zwischen diesen beiden für die Nachkriegsmoderne so einflussreichen Cami zu diesem Paradigmenwechsel entscheidend beigetragen.
- 1 Otl Aicher: „Voraussetzungen der Erschließung 1960“, Nachlass Otl Aicher Ai.Az. 2074 Nr.1.98, S.19, HfG- Archiv/Ulm Museum.
- 2 Sarah Williams Goldhagen & Rejean Legault (Hg.): Anxious Modernisms, MIT Press, Cambridge 2002.
- 3 Paul Betts: „Das Bauhaus als Waffe im Kalten Krieg. Ein Amerikanisch-Deutsches Joint Venture“, in: Philip Oswalt (Hrsg.): Bauhaus Streit. 1919–2009: Kontroversen und Kontrahenten, HatjeCantz, Ostfildern Ruit 2009, S. 196–213, hier: S. 206.
- 4 Paul Betts: The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, University of California Press, Berkely 2004, S. 170ff.
- 5 Ebd.
- 6 Tomás Maldonado: „Ist das Bauhaus aktuell“, in: ulm, No. 8/9, 1963, S. 5–13.
- 7 Siehe: Asger Jorn: „Notes on the Formation of an Imaginist Bauhaus”, www.bopsecrets.org/SI/bauhaus.htm (5. November 2018).
- 8 zitiert nach Jörn Etzold: „Unreines Erbe. Das Imaginistische Bauhaus und das Neue Babylon“, in: Sonja Neef (Hg.): An Bord der Bauhaus. Zur Heimatlosigkeit der Moderne, transcript Verlag, Bielefeld 2009, S. 29–43, hier: S. 34.
- 9 Marguerite Wildenhain & Charles Eames: „Asilomar Conference Proceedings 1957“, in: Glenn Adamson: The Craft Reader, Berg Publishers, Oxford 2009, S. 570–576.
- 10 Betts: The Authority of Everyday Objects, 2004, S. 177.
- 11 Frederic J. Schwartz: „The Disappearing Bauhaus. Architecture and its Public in Early Federal Republic“, in: Jeffrey Saletnik & Robin Schuldenfrei (Hg.): Bauhaus Construct. Fashioning Identity, Discourse and Modernism, Routledge Chapman & Hall, London 2009, S. 61–82, hier: S. 79.
- 12 Der India Report von Charles und Ray Eames aus dem Jahr 1958 steht im Research Archive der Edition Moving Away dieses Online Journals kostenfrei zum Download bereit.
- 13 Farhan Sirajul Karim: „MoMA, the Ulm and the development of design pedagogy in India“, in: Shanay Jhaveri & Devika Singh (Hg.): Western Artists and India. Creative Inspirations in Art and Design, The Shoestring Publisher, London 2013, S. 122–139, hier: S. 132; auch kostenfrei abrufbar im Research Archive der Edition Moving Away dieses Online Journals.
- 14 H. Kumar Vyas: „Design History. An Alternative Approach“, in: Design Issues, Vol. 22, No. 4, Autum 2006, S. 28.
- 15 Karim: „Moma, the Ulm and the development of desgin pedagogy in India“, 2013, S. 132.
- 16 Hans Gugelot, Brief an seine Frau aus Ahmedabad 1965, HfG- Archiv/Ulm Museum.
- 17 Sudhakar Nadkarni, Biographie, http://www.dsource.in/sites/default/files/resource/history-product-design-india/design-mentors/prof-s.nadkarni/file/Prof_Sudhakar_Nadkarni.pdf (5. November 2018).
- 18 Sudhakar Nadkarni: Gestaltung eines Milch-kiosks, Diplomarbeit, 1966, Inv.-Nr. K_68_1_1, HfG-Archiv/ Ulm Museum.
- 19 Die Recherchen zum Milchkiosk waren Bestandteil des Bauhaus Labs 2017. Stiftung Bauhaus Dessau: Between Chairs. Design Pedagogies in Transcultural Dialogue, Spector Books, Leipzig 2018.
- 20 Saloni Mathur: „Charles and Ray Eames in India“, in: Art Journal, Vol. 70, No. 1, Spring 2011, S. 34–53, hier: S. 39.
- 21 Alison Clarke: „Design for Development ICSID and UNIDO. The anthropological turn in the 1970th Design“, in: Journal of Design History, Vol. 29, No. 1, 1 February 2016, S. 43–57, hier: S. 46.
- 22 Ebd.