Eben weil Grunow ihre Schüler*innen durch die Eröffnung „ursprünglicher Erlebnisweisen“ in eine Art „Trance“ versetzte, in der die Reflexion zugunsten reiner Empfindungen ausgeschaltet ist, wird ihre Praxis oft mit Yoga und Meditation verglichen. Während wir von Itten wissen, dass er Mazdaznan sowie Yoga als Vorbild für seine Leibes- und Atemübungen nahm,28 ist von einem konkreten Bezug Grunows zu solchen Lehren allerdings nichts überliefert. Die ‚fernöstlich‘ inspirierte Atem- und Gesundheitslehre Mazdaznan schien sie nicht sehr zu interessieren, obwohl Atmung auch für ihre Praxis zentral war.29
Grunows Theorien sind allerdings nur lückenhaft überliefert, sodass weiterhin viel Raum für Spekulation bleibt. Unglücklicherweise konnte Grunow die geplante Niederschrift ihrer Lehre vor ihrem Tode nicht beenden. Daran hatte sie in den späten 1930er Jahren intensiv gearbeitet und das unvollendete Manuskript ihrem ehemaligen Bauhaus-Schüler Gerhard Schunke überlassen. Schunke wirkte damals als esoterischer Naturheiler in der Schweiz. Anstatt, wie versprochen, das Grunow-Material zu ordnen und zu publizieren, verwendete er es für eigene Zwecke – für Vorträge und Artikel, in denen er seine Medizin vorstellte und bewarb. Insbesondere nahm er Ergänzungen vor, die sich heute nicht mehr eindeutig von den Gedanken Grunows trennen lassen.30
Grunows langjährige Assistentin Hildegard Heitmeyer beobachtete diese Machenschaften Schunkes hilflos und schrieb 1956 einen erbosten Bericht, der diesen als Scharlatan überführte:
„Seine (Schunkes) Aufsätze ebenso seine Heilmethode fußt auf den Forschungen von G.G. u. sind vermischt mit allen möglichen Geistesrichtungen, Astrologie, Yoga u.s.w.! Die genialen Forschungen über Klang u. Farbe, Gertrud Grunow's Lebenswerk, für das sie gekämpft u. gelitten hat, sind in den Händen eines Charlatan u. Ehrsüchtigen!“31
Heitmeyer betrachtete die Einspeisung astrologischer und yogischer Ideen als Verfälschung der Grunow-Ideen. Dass sie damit nicht ganz richtig lag, belegt allerdings ein bislang unveröffentlichtes Grunow-Zitat aus späten Jahren. So befindet sich im Nachlass des ehemaligen Grunow-Schülers und Kunstpädagogen Erich Parnitzke ein Brief Grunows an Itten, in dem sie sich auf Yoga-Praktiken bezieht:
„Was Sie über die schliessliche Vereinigung aller Sinne in Eins als höchste Stufe berichten, darüber sprach ich in London mit einem der dortigen ersten Ärzte, Dr. de Right, der in London geboren wurde, bis 14. Jahr dort und später noch 10 und 12 Jahre wieder gelebt hat und tiefe Liebe und Kenntnis der Yoga-Lehren, auch praktisch besitzt. Er arbeitete mit mir und behauptete, daß von aller europäischer Praxis meine Arbeitsweise als einzige der richtigen Yoga-Art entspräche. (…)“32
Tatsächlich war die Einheit der Sinne für Grunows Ideen zentral. Diese Einheit fand sie im Vor- und Unbewussten realisiert – in der Welt der Empfindung. Werner und sie untersuchten solche „Ur-Synästhesien“ praktisch-experimentell als ursprüngliche Empfindungsweisen. Die Entwicklungspsychologie der Zeit ging davon aus, dass diese ‚primitiven‘ Empfindungen, in denen die Sinne nicht ausdifferenziert erscheinen, bei sog. „Naturvölkern“ in Ägypten, Babylonien, China und Mexiko, bei Kindern, Künstlern und ‚Geisteskranken‘ noch aktiv seien.33
Wenngleich Grunow ihre Ideen eng mit der durchaus problematischen psychologischen Forschung der Zeit verband, wird aus der Art und Weise, in der sie die Londoner Anekdote erzählt, deutlich, dass sie den Vergleich zum Yoga keineswegs ablehnte oder für abstrus hielt. Eine nicht-intellektuelle, meditative Konzentration auf etwas Imaginiertes oder auch etwas Außenweltliches – eine Kerze oder eine Farbe – ist schließlich ebenso als Meditations- wie auch als Grunow-Praxis denkbar. Der Einsatz von Klang – hervorgerufen durch Klavier oder Klangschale – stellt ebenfalls eine Parallele zu Yoga und Meditation dar. Und auch der Fluss des Pranas als Atemfluss und Lebensenergie scheint nicht fern von ihrer Lehre. Dennoch handelt sich dabei um Gemeinsamkeiten auf einer sehr allgemeinen Ebene und keinesfalls um direkte Übernahmen. So unterscheiden sich die Bewegungsformen Grunows beispielsweise stark vom Yoga. Grunows Schüler*innen mussten sich weder sehr verrenken, noch setzten oder legten sie sich, soweit wir wissen, in den Übungen auf den Boden. Zudem, und auch das stellt einen Unterschied zu Yoga und Meditation dar, zielte die Grunow-Praxis auf die Unterstützung künstlerisch-kreativer Arbeit ab, und verfolgte so einen praktischen Zweck, der je nach Schüler*in individuell bestimmt wurde.
Ein aktueller Bezug zur Bedeutung oder gar Instrumentalisierung von Yoga und Meditation in westlichen Gesellschaften eröffnet sich mit Blick auf die Grunow-Lehre dennoch: So ging Grunow zwar davon aus, dass der moderne Mensch durch seine urbane Umwelt unter Nervosität leide und sein inneres Gleichgewicht verloren habe, dennoch propagierte sie keinen Ausstieg aus der Gesellschaft oder eine radikale Rückkehr zur Natur. Sie selbst pendelte nach ihrer Zeit am Bauhaus Weimar zwischen Berlin, Hamburg und London, und führte so bewusst ein urbanes Leben. Grunow schuf Übungen, die dazu dienten, innerhalb einer durch Geschwindigkeit und Zeitdruck geprägten Lebenswelt ‚zu sich‘ zu kommen, und sich für die hektische Lebenswelt zu wappnen, anstatt das Leben von Grund auf zu ändern. Dieser Ansatz erscheint im heutigen Meer an Angeboten zur Harmonisierung von Körper und Geist aktueller denn je – von Entschlackungskuren über Yoga- und Achtsamkeitskurse bis hin zu verschiedenen Formen von ‚Retreats‘.