Zwei seiner zentralen künstlerischen Arbeiten verdeutlichen dies: das Kinetisch-konstruktive System mit Bewegungsbahnen für Spiel und Beförderung (1922) und das Lichtrequisit einer elektrischen Bühne (1930) – auch Licht-Raum-Modulator genannt.
In beiden Arbeiten mobilisierte Moholy-Nagy den Blick des Betrachters maschinell. Im Kinetisch-konstruktiven System kann sich der Betrachter entlang spiralförmiger Bahnen, die um eine Zentralachse mit Fahrstuhl und Rutschstange für die Akteure in einer Art Totaltheater angeordnet sind, quasi frei bewegen. In der Beschreibung der ersten Fassung des kinetischen konstruktiven systems (der Titel hier in leicht abgewandelter Form) von 1922 formulierte Moholy-Nagy unter anderem über die eingebauten Mittel zur Mobilisierung des Zuschauers:
„der bau enthält eine äußere bahn mit spiraler steigung zur beförderung des publikums, daher mit geländer, statt stufen rollrampe. (...) das untere ende läuft in eine horizontale ringplattform aus, die mit einem rollband das publikum durch einer rutsche herausschleudert.“3
Durch diese Roll- und Rutschbahnen verbunden mit einer Drehbewegung des ganzen Baus, wird die Betrachtungssituation zusätzlich beschleunigt und dynamisiert, das Gebäude selbst steuert die Bewegung und Perspektive des Besuchers.
Moholy-Nagy selbst konnte sein Das Kinetisch-konstruktives System allerdings nie selbst zum Leben erwecken. Anders beim Lichtrequisit einer elektrischen Bühne – einer Apparatur, die von Moholy-Nagy zunächst als Beleuchtungsmittel für Theaterinszenierungen angedacht war. Das Lichtrequisit wurde in Zusammenarbeit mit der AEG (noch heute eines von Deutschlands führenden Elektrizitätsunternehmen) produziert und erstmals 1930 in der Abteilung des Deutschen Werkbunds zur Pariser Ausstellung der Société des artist décorateurs gezeigt. Während die Apparatur bei dieser Ausstellung in einem geschlossenen Kasten mit runder Öffnung (möglicherweise versehen mit einer transluzenten Scheibe) geradezu versteckt wurde und daher auch wenig Beachtung fand, befindet sich heute im Busch-Reisinger-Museum der Harvard Universität in Cambridge eine Fassung des Geräts, bei der die innere Mechanik vollständig offengelegt ist. Hier kann sich der Betrachter frei um die Apparatur herumbewegen, in die reflektierenden Lichtstrahlen eintauchen und eins werden mit der Projektion. Anders als die Lichtspiele der Bauhäusler Ludwig Hirschfeld-Mack und Kurt Schwerdtfeger, die von Performern nach vorgegebenen Partitur-Kompositionen aufgeführt und auf eine flache Leinwand projiziert wurden, funktioniert das Lichtrequisit automatisch und autonom, setzt den Betrachter in Beziehung zu seiner Materialität und ermöglicht ihm eine Interaktion mit den kreisenden Lichtstrahlen. Die Dynamik, die mittels simultaner Überlagerung von Lichteffekten den umliegenden Raum in ein vielschichtiges Bewegungsspiel verwandelt, löst die räumliche Orientierung auf. Nachvollziehbar wird dies bei Moholy-Nagys Film Ein Lichtspiel schwarz-weiss- grau (1930) – die wohl ausgereifteste künstlerische Auseinandersetzung mit dem Licht-Raum-Modulator.
Die Funktionsweisen des Kinetisch-konstruktiven Systems und des Lichtrequisits stellt Oliver A. I. Botar in seinem Artikel „Gesamtkunstwerk Ohne Kunst. Moholy-Nagys Gesamtwerk-Begriff“ unter dem Begriff des Gesamtwerkes gegenüber und stellt die partizipativen Eigenschaften der beiden Werke heraus.4 Edit Tóth führt die Wirkweise des Licht-Raum-Modulators weiter aus und setzt sie in Bezug zu zeitgenössischen kulturellen Praktiken und visuellen Phänomenen der Weimarer Republik, die sich konventionellen Wahrnehmungsmustern widersetzten und gleichzeitig die herrschende gesellschaftliche Irritation akzelerierten:
„The Light Prop subtly engages, by way of its performance, with various cultural practices and visual technologies, including the jazz performance, cinema, outdated optical toys, and theater in a way that defies technological determination and conventional perception, integrating and at the same time separating image space and body space that tended to become momentarily confused in Weimar visual culture. Moholy-Nagy’s drive for a self-aware perception that could deconstruct and go beyond the façade of desires of the city’s light environment, however, proved insufficient by the early 1930s. As his constant resituating and reformulation of the Light Prop and with it the problem of perception suggest, he addressed, although underestimated, capitalism’s ever-adapting and controlling means of image production.“5
Sehen in Bewegung als Demokratie-Therapie
Die Auseinandersetzung mit Denkansätzen, Modellen und Strategien für eine Neudefinition von visueller Kultur, der Kontrolle von Bildern und der Gestaltung von Wahrnehmung in komplexen gesellschaftlichen Umwälzungen, machte ehemalige Bauhäusler wie Moholy-Nagy, der die Leitung des New Bauhaus in Chicago übernahm, so interessant für die Entwicklung von Demokratisierungswerkzeugen im Kampf gegen den Faschismus und später im Einsatz während des Kalten Kriegs. In seinem Buch The Democratic Surround beschreibt Fred Turner ausführlich dieses Zusammenspiel von Künstlern, Gestaltern und Wissenschaftlern mit dem 1961 von Präsident Dwight D. Eisenhower (im Zweiten Weltkrieg Fünf-Sterne-General) öffentlich so bezeichneten aber schon vorher wirksamen „military-industrial complex“ in den USA:
„In 1933 the Nazis closed the Bauhaus, objecting to its members’ ostensibly degenerate penchants for abstraction and collectivism. By the end of the 1930s, many of the most prominent members had migrated to the United States. As World War II got under way, the former teachers of the Bauhaus, and particularly László Moholy-Nagy and Herbert Bayer, applied these techniques to helping make the personalities of American citizens more democratic and the nation as a whole more committed to confronting fascism. Drawing on tactics first developed to challenge the visual and social chaos of industrial Europe, they built environments—in books, in museum exhibitions, in classrooms, and in their own photographs, paintings, and designs—hat modeled the principles of democratic persuasion that were being articulated by American social scientist at the same moment. These environments became prototypes for the propaganda pavilions that the the United States government would construct overseas throughout the Cold War. Ultimately, they helped set the visual terms on which the generation of 1968 would seek its own psychological liberation.“6
Das New Bauhaus Chicago – und die daraus weitergeführte School of Design (1939–1945) und das IIT Institute of Design (ab 1945) – wurden von der Regierung finanziell unterstützt, um neue Erkenntnisse aus künstlerisch-technischer Forschung zu erlangen, die zunächst während des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich zum zivilgesellschaftlichen Schutz, im Kalten Krieg dann für militärisch-politische Zwecke eingesetzt werden sollten. Die Zusammenarbeit mit Militär und Industrie war einerseits aus der prekären finanziellen Situation des New Bauhaus geboren, anderseits auch aus dem positivistischen Glauben, mit visueller Erziehung und Technologie – wenn sie nur in den richtigen Händen liegen – die Welt verbessern zu können. Nicht zuletzt wollte Moholy-Nagy dabei helfen, dem Nazi-Regime ein Ende zu setzen.
Der berechtigte Kampf gegen die Nationalsozialisten mit den Mitteln der Kunst und des Designs vollzog sich am New Bauhaus/School of Design vor allem in der Arbeit zur Tarnung zivilgesellschaftlicher und militärischer Ziele. In der von László Moholy-Nagy und György Kepes installierten Camouflage Klasse wurden visuelle und architektonische Konzepte der Tarnung anhand von Zeichnungen und Modellen erprobt. Moholy-Nagys Film Work of the Camouflage Class von 1943 zeigt eine Reihe studentischer Arbeiten, die in einer Ausstellung mit dem gleichnamigen Titel präsentiert werden. Dargestellt werden Schaubilder mit Tarnmustern aus der Tier- und Pflanzenwelt, die auf militärische Fahrzeuge und Uniformen appliziert werden, Modelle von getarnten Gebäuden bis hin zu Luftaufnahmen von Städten und Wohnanlagen, die durch abstrakte Bemalungen für Flugzeuge unsichtbar erscheinen sollen.
Weitere aus dem Krieg begründete Anwendungsarten der am New Bauhaus entwickelten Techniken waren die Gestaltung von Prothesen für Kriegsversehrte sowie kunsttherapeutische Maßnahmen zur Resozialisierung traumatisierter Soldaten. Bei deren Entwicklung spielte das Museum of Modern Art (MoMA) und Victor D’Amico (der erste Direktor des Department of Education am MoMA) eine zentrale Rolle:
„In 1944, D’Amico drew on a set of therapeutic and instructional practices outlined by Moholy-Nagy and transformed his classes into a national model for using art to resocialize veterans at the Museum of Modern Art’s new War Veterans’ Art Center. In 1948, as veteran demand eased, the museum turned the Veterans’ Center into a public resource, the People’s Art Center.“7
Das MoMA hatte während des Zweiten Weltkriegs eine Programmatik für die Mobilisierung der USA im Kampf gegen Nazi-Deutschland entwickelt und dafür weitere Bauhäusler eingebunden: Mit Road to Victory zeigte das MoMA 1942, ein halbes Jahr nach den Angriffen auf Pearl Harbour, eine propagandistische Ausstellung mit großformatigen Fotografien des Lebens in den Vereinigten Staaten, von amerikanischen Landschaften bis hin zu Szenen, die die Kriegsvorbereitungen darstellten. Die Bürger sollten so für den Kriegseinsatz aktiviert werden. Die Ausstellung wurde von dem damaligen „Lieutenant Commander“ – und einem der bedeutendsten Fotografen des frühen 20. Jahrhunderts – Edward Steichen kuratiert. Die Installation der teils frei im Raum schwebenden Fotografien wurde von dem ehemaligen Leiter der Bauhaus-Werkstatt für Druck und Reklame Herbert Bayer8 realisiert. Die Anordnung basierte auf seinem Gestaltungsprinzip des „Extended Field of Vision“, das er in Ansätzen schon auf der 1930 mit Walter Gropius, Marcel Breuer und László Mohly-Nagy gestalteten Werkbundausstellung in Paris zeigte – also genau dort, wo Moholy-Nagy sein Lichtrequisit zum ersten Mal öffentlich präsentiert hatte. Turner beschreibt die Charakteristika und Wirkweise des Extended Field of Vision wie folgt:
„(…) as the Museum of Modern Art became a central hub for the boosting of American morale, critics came to see the flexibility and independence that Bayer offered his viewers, coupled with his environmental mode of governing the viewers’ movements, as a uniquely pro-American mode of propaganda making. Bayer’s extended field of vision solved the problem posed by fascist propaganda and mass media: by granting viewers high degrees of agency with regard to the visual materials around them, and by at the same time controlling the shape of the field in which they might encounter those materials, the extended field of vision could lead American viewers to remake their own morale in terms set by the field around them. That is, they could exercise the individual psychological agency on which democratic society depended, and so avoid becoming the numb mass men of Nazi Germany. At the same time they could do so in terms set by the needs of the American state, articulated in the visual diction of the Bauhaus.“9
Eine smarte Strategie, denn während der Ausstellungsbesucher den Eindruck gewann, sich frei und individuell durch die Ausstellungsinhalte zu bewegen und Herr über ihre Deutung zu sein, wurde durch die Vorauswahl der gezeigten Bilder und ihrer Arrangements ein Wahrnehmungs- und Erkenntnisspektrum determiniert. Dieses kuratorische Konzept sollte in den folgenden Jahren in verschiedenen Ausstellungsprojekten und medialen Environments angewandt und weiterentwickelt werden. So gestaltete Herbert Bayer auch die von Monroe Wheeler, MoMAs Director of Exhibitions, geleiteten Ausstellung Airways to Peace (1943) und Edward Steichen nutze diese Vermittlungsstrategie in seiner epochalen raumgreifenden Fotoinstallation The Family of Man, die 1955 im MoMA Premiere feierte (1955)10. Die Ausstellung sollte ein humanistisches Menschenbild vermitteln und die Botschaft um die Welt tragen, dass alle Menschen – egal welcher Herkunft – gleich sind. Family of Man sollte im Folgenden als ein zentraler Baustein amerikanischer Nationalausstellungen (u. a. als Länderpavillon bei Weltausstellungen) an politstrategischen Orten ausgestellt werden, darunter Berlin, Tokio, Paris, München, Amsterdam, London, Kabul und auch Moskau. Steichens Ausstellungen gehörten zur amerikanischen Demokratisierungsstrategie, die global verbreitet werden sollte.
Erweitert wurden diese groß angelegten Ausstellungsprojekte amerikanischer Lebensweise und Konsumkultur u. a. um Geodätische Dome von Buckminster Fuller und multimediale Installationen von Charles und Ray Eames wie den Glimpses of the U.S.A. (1959). Letztere brachten Kommunikationstheorien, Algorithmus-basierte Informationssysteme und kybernetische Prinzipien zum Beispiel von Claude Shannon und Norbert Wiener in die Gestaltung mit ein. Auf diese Art und Weise entstanden komplexe Wahrnehmungsdispositive zwischen Kontrolle und Liberalisierung, innerhalb derer die Auswahlmöglichkeiten und partizipativen Rückkoppelungen immer umfangreicher wurden. Während die visuellen und kuratorischen Techniken zunehmend ausgereifter und subtiler wurden, blieb der zugrundliegende Trick der gleiche: Der Besucher der Ausstellung sollte ein Gefühl individueller Freiheit und Deutungshoheit entwickeln und sich als selbstbestimmt in der Erschließung der Sinnzusammenhänge wahrnehmen. Doch waren die Rahmenbedingungen und Ausstellungsinhalte keineswegs objektiv, sondern sehr genau vorselektiert, gestaltet und kuratiert. Solange der Besucher diese Technik nicht durchschaute, stellte sich bei ihm eine quasi-emanzipatorische Wirkung ein. Den psychomentalen Prozess hierfür beschrieb Moholy-Nagy im ersten Absatz seiner Thesen zum Sehen in Bewegung (siehe oben) in Vision in Motion.