Das Bauhaus aus brasilianischer Perspektive – Le Corbusier vs. Gropius
Es gibt keine eine “Bauhaus-Architektur”. Diese Arbeit versucht jedoch nicht den Einfluss eines einheitlichen „Bauhausstils“ aufzuzeigen, sondern die Impulse aus dem engeren Umfeld des Bauhauses zu identifizieren, um auf eine Unterscheidung bzw. eine Abgrenzung zwischen der deutschen und der französischen Moderne (oder auch zwischen dem durch das Bauhaus propagierten Neuen Bauen und Le Corbusier) aufmerksam zu machen. Dieser Ansatz entstand aus der Einstellung der brasilianischen Forschung, die die Moderne unter den nahezu ausschließlichen Einfluss Le Corbusiers und insbesondere seines Programms „Fünf Punkte der modernen Architektur“ stellte. Es ist sicherlich schwierig, die verschiedenen Schulen der Moderne auseinanderzuhalten, vor allem da es viele Überschneidungen gab und eine detaillierte Genese der Provenienz nach wie vor ein aktiver Teil der Forschung ist. Und trotzdem gibt es innerhalb der Institutionen wie dem Bauhaus und ihm nahestehende Vereinigungen wie dem Ring gemeinsame Merkmale. Es sind Charakteristika wie z. B. das Eckfenster, die Interaktion zwischen geschlossenem und geöffnetem Raum der Flächen, das Sonne-Schatten-Spiel, das Verstecken des Eingangs, vorkragende Elemente oder die Betonung der Funktion der Volumen, die herausgestellt werden sollen und als Kriterien der Betrachtung dienen.1 Diese Auswahl an Baumerkmalen sind Beispiele dafür, dass sich viele architektonische Elemente erst vom Bauhaus aus zu entwickeln begannen und später oft zu beliebten Motiven des Neuen Bauens wurden.
Zu beachten ist auch, dass der Einfluss aus einer brasilianischen Perspektive betrachtet werden muss. Durch die Distanz und den lückenhaften Informationsfluss wird in Brasilien nicht zwischen einer Architektur Meyers oder Mays unterschieden, und kaum Zwischenschritte einer Entwicklung der europäischen Moderne wahrgenommen, sondern es wird schlicht als französischer (aka Le Corbusier) oder deutscher (aka Bauhaus bzw. Gropius) Einfluss kategorisiert. Die Arbeit zeigt die Unterschiede auf und eröffnet einen neuen Diskurs. Den Begriff des International Style wurde dabei gezielt vermieden, da es ein Begriff ist, unter dem Hitchcock versuchte, eine subjektive Auswahl weißer Kubenarchitektur unter einem Namen zu vereinen, dies aber keinesfalls auf die, wie Zukovsky formulierte „Vielfalt der Moderne in Deutschland“ zutrifft.2 Stattdessen wird der Begriff des Neues Bauens verwendet, der sicherlich Überschneidungen mit dem Internationalen Stil hat, aber trotzdem eine erweiterte und treffende Bezeichnung für die Betrachtung der deutschen Impulse in Brasilien ist.
Die Anfänge einer Brasilianischen Moderne
Die brasilianische moderne Architektur hat seit ihren ersten Schritten gegen Ende der 1920er-Jahre herausragende Objekte zutage gebracht und wird noch heute als Symbol einer eigenen architektonischen Identität gewürdigt. Sie wurde seit ihren Anfängen mit den ersten Ausstellungen moderner Häuser von Gregori Warchavchik in São Paulo und der Ausbildung der Escola Carioca um Lúcio Costa hauptsächlich unter Le Corbusiers Einfluss gestellt. In der Tat orientierten sich die Architekten zu Anfang der Moderne an verschiedenen Avantgarde-Kunstschulen, neben der französischen Moderne auch an der des deutschen Rationalismus, der vor allem durch die zahlreichen deutschsprachigen, häufig jüdischen Emigranten, die das Bauhaus oft als Manifestation ihrer eigenen Sache sahen, getragen wurde.
Eine Deutung und Zuordnung von Bauhaus-Einflüssen bleibt jedoch bis heute problematisch. Im Brasilien der zwanziger Jahre war das neuartige Programm des Bauhauses und die Namen der Architekten des Neuen Bauens weitgehend unbekannt. So wurden lediglich die wichtigsten Vertreter wie Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Marcel Breuer und deren populäre Werke wahrgenommen und nicht das Gesamtkonzept der Schule, das ihnen den Antrieb gab. Wie auch noch heute, wurden schließlich sogar die Namen dieser Architekten und Designer synonym mit dem Bauhaus verwendet. Die Rezeption der Bauhaus-Prinzipien erfolgte dabei hauptsächlich anhand von wissenschaftlichen Publikationen – deutschen, internationalen und brasilianischen –, sowie durch Ausstellungen und die architektonische Ausbildung an der Escola National das Belas Artes (ENBA).
Der erste Unterricht der „Funktionalen Architektur“ an der ENBA, die die erste Generation engagierter Modernisten hervorbrachte, wurde durch den jungen Direktor Lúcio Costa im Rahmen einer Reform der Architekturausbildung initiiert. Das Bauhaus entsprach Costas Vorstellung einer perfekten Kunsthochschule. Doch es gelang ihm nicht gegen den Widerstand der Traditionalisten einen ebenso radikalen Plan während seines kurzen Direktorats durchzusetzen,3 auch wenn er zwei ausländische Architekten als Professoren für den Unterricht der „Funktionalen Architektur“ – Gregori Warchavchik und Alexander Buddeus – eingestellt hatte. Warchavchiks und Buddeus eigene Bauten weisen starke Parallelen zu Bauten von Walter Gropius auf, die dieser während seines Bauhaus-Direkorats plante und mit dieser speziellen Bauweise auch seine Studenten am Bauhaus beeinflusste. Wahrscheinlich hatten die beiden Architekten von Gropius’ Architekturverständnis bereits in Europa in den kursierenden internationalen Zeitschriften erfahren und sich hierdurch inspirieren und beeinflussen lassen. Mit ihrer Anstellung an der ENBA gewann Costas zwei Lehrer für seine Schule, die bereits als Architekten mit modernem Einfluss gearbeitet hatten und legte hiermit den Grundstein dafür, eine neue Generation moderner brasilianischer Architekten heranzubilden.4 Paulo Ferreira Santos, Architekturhistoriker und Zeitzeuge und in den 1930er- bis 40er-Jahren selbst Architekturdozent an der ENBA, berichtete: „Buddeus und Warchavchik machten die Schule zur echten Revolution“, die einen enormen Einfluss auf die junge Generation ausüben sollten.5 Zudem bestand der große Verdienst von Buddeus darin, dass er die deutschen Architekturzeitschriften Moderne Bauformen und Die Form in Brasilien einführte.6 Das Bauhaus wurde seit den Anfängen seines institutionellen Bestehens in der Presse lebhaft mitverfolgt und seine sozialen und kulturellen Dimensionen diskutiert.7 Moderne Bauformen und Die Form sowie auch die Zeitschrift Bauwelt zählten zu diesem Zeitpunkt zu den einflussreichsten deutschen modernen Architekturzeitschriften und spielten bei der Verbreitung der Ideen des Neuen Bauens und des Bauhauses eine wesentliche Rolle; seit 1929 wurden sie in den Bestand der Bibliotheken aufgenommenen und bald durch mehrere Institutionen im Land abonniert.8 Die brasilianischen Bibliotheken führten neben der konservativ ausgerichteten Deutschen Bauzeitung, die sich erst ab dem Jahr 1928 dem Trend in der Architektur beugte und vermehrt über das Neue Bauen berichtete, auch weitere Titel, die sich bereits seit den frühen zwanziger Jahren mit den Themen der Moderne beschäftigten, wie Der Architekt und Wasmuths Monatshefte für Baukunst. Überdies lassen sich eine Reihe technischer Architekturzeitschriften, unter anderem Beton und Eisen, Die Bautechnik, die Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Baumeister und Baugilde,9 wie auch einige Titel im Bereich der Kunst und kunsthistorischen Zeitschriften, unter anderem Deutsche Kunst und Dekoration, Das Kunstblatt und Der Querschnitt, aufzählen. Die Präsenz der deutschen Zeitschriften muss so dominant gewesen sein, dass Diógenes Rebouças, ein Architekt und Universitätsprofessor der Zeit, berichtete, dass die in den 1930er-Jahren in Brasilien zirkulierenden Zeitschriften alle deutsch gewesen seien.10
Auch in der internationalen Fachpresse wurde die architektonische Entwicklung in Deutschland erwartungsgemäß mit großem Interesse verfolgt.11 In Brasilien hatten verschiedene Institutionen ein insgesamt beachtliches Spektrum an internationaler architektonischer und kunstgeschichtlicher Fachpresse aus den USA, Frankreich und Großbritannien bezogen. In den wichtigsten Bibliotheken des Landes waren alle führenden internationalen Fachzeitschriften zugänglich: neben dem Architectural Record und Architectural Forum, die in dem Publikmachen von Bauhaus-Inhalten eine maßgebliche Rolle spielten, auch Architectural Review, L’architecture d’aujourd’hui, Pencil Point und The RIBA Journal.
In Bezug auf die Popularisierung der Ideen des Bauhauses spielten neben den Periodika auch wissenschaftliche Monografien und Fachbücher eine tragende Rolle. Unter den Publikationen der Bauhausmeister waren in Brasilien die Klassiker Die Internationale Architektur (1925) und The new Architecture and the Bauhaus (1934) von Walter Gropius sowie The New Vision, From Material to Architecture (1932) und telehor. Internationale Zeitschrift für visuelle Kultur (1936) von László Moholy-Nagy weit verbreitet. Zudem befanden sich im Bestand der wichtigsten Bibliotheken des Landes auch die Standardwerke der internationalen Spezialisten, die über das Bauhaus berichteten, wie Sigfried Giedions Befreites Wohnen und Walter Gropius, Henry-Russell Hitchcocks und Philip Johnsons The International Style: Architecture since 1922, Le Corbusiers Vers une architecture oder Catherine Bauers Modern Housing.12
Neben den öffentlichen Einrichtungen verfügten auch Privatpersonen über Zugang zur aktuellen Fachpresse und hatten zum Teil bemerkenswert umfangreich aufgebaute, eigene Sammlungen zusammengestellt. Es ist bekannt, dass sich in der Privatbibliothek von Lasar Segall, einem litauisch-jüdischen Expressionist und Familienmitglied Warchavchiks, sechs Ausgaben der Bauhausbücher befanden, unter anderem Internationale Architektur von Gropius und Ein Versuchshaus des Bauhauses in Weimar von Adolf Meyer.13 Interessanterweise befanden sich zwischen den leider kaum erhaltenen Positionen der Bibliothek Warchavchiks Titel wie Wie bauen? Materialien und Konstruktionen für industrielle Produktion von Heinz und Bodo Rasch aus dem Jahr 1928, oder Adolf Schnecks Türen aus Holz und Metall. Konstruktion und Maueranschlag von 1933.14 Die Architekten hatten also nicht nur Zugang zu den einschlägigen Publikationen und damit allgemeinen Positionen, sondern auch zu kleineren Auflagen und speziell ausgerichteten Fachbüchern. Hervorzuheben ist hier insbesondere die Sammlung des Architekturhistorikers Paulo Santos, der eine imposante Sammlung zur Bibliografie der Moderne besaß und dessen Nachlass heute eine spezialisierte Bibliothek für Architekturgeschichte ist.
Die Rezeption des Bauhauses in der brasilianischen Fachpresse
In der brasilianischen Fachpresse sind bis Ende der zwanziger Jahre nur vereinzelte Nachrichten über die neuen Trends zu finden. Im Land kursierten zu diesem Zeitpunkt nur wenige Fachzeitschriften, meistens in konservativer Ausrichtung, wie Architectura no Brasil ab 1921, A Casa ab 1924 und Técnica e Arte ab 1928.15 In den dreißiger Jahren stieg die Zahl moderner Zeitschriften im Land langsam an, allen voran A casa, die sich bereits 1929 unter dem Titel A Casa. Revista das construcções modernas neu aufstellte und sich mit den Themen wie Konstruktion, Handwerk und ferner Urbanismus befasste und ab 1930 in Artikeln mit Titeln wie „A architectura moderna no velho continente“ die moderne Bewegung in Europa begleitete.16
Eine weitere Zeitschrift, die Revista de Engenharia da Prefeitura do Distrito Federal (PDF), wurde ab dem Jahr 1932 herausgegeben und behandelte in erster Linie Beiträge und Diskussionen zu Problemen der Stadtplanung. Auf den Seiten der Zeitschrift wurden unter anderem neben der Vorstellung der Programme des CIAM auch ein Artikel Armando de Godoys (einem Architekten und Publizisten) über Gropius, der ihn als wichtige Referenz für die ein Monat zuvor stattgefundene Ausstellung des 1° Salão de Arquitetura Tropical erkannte, publiziert.17 Erwähnt werden sollte ebenfalls Arquitetura e Urbanismo, eine Zeitschrift, die ab dem Jahr 1936 erschien und neben den einschlägigen brasilianischen Projekten mehrere Werke des Neuen Bauens und insbesondere ausführliche Berichte über den sozialen Wohnungsbau zeigte. So wurde beispielsweise unter dem Titel „Apartamentos Económicos“ über die Siedlungen von Bruno Taut, Paul Mebes und Paul Emmerich in Berlin-Neukölln und von Bruno Taut in Berlin-Zehlendorf berichtet, oder in der Rubrik „Fotografias e Comentários de Viagens“ von großen Siedlungsprojekten wie die Berliner Siemensstadt, von Industriebauten, aber auch von kleinen Residenzen in der Peripherie der deutschen Hauptstadt, gesprochen.18
Zu Beginn der dreißiger Jahre bildete neben der A Casa die nur kurz bestehende Zeitschrift forma eine Ausnahme. Sie wurde in den Jahren 1930–32 durch Alejandro Baldassini und Emílio Baumgart mit Beteiligung von Di Cavalcanti und Gregori Warchavchik ins Leben gerufen und herausgegeben. Den Namen der Zeitschrift entliehen sie dem Namen der deutschen Zeitschrift Die Form und, ähnlich wie die etwas später erscheinende base von Alexandre Altberg, wurde auch forma in Anlehnung an das Universal-Alphabet, das Herbert Bayer 1925 für das Bauhaus entwickelt hatte, kleingeschrieben. Der Fokus der Zeitung lag in der Verbreitung der Ideen moderner Konstruktionsweisen und in technologischen Aspekten, hauptsächlich in Anlehnung an die deutsche Moderne, und ferner einer Bewerbung der Tätigkeit deutscher Vereinigungen wie der Pró-Arte. Die Pró-Arte, eine seit 1931 in Rio de Janeiro wirkende Gemeinschaft deutscher Künstler und Kunstfreunde, rief in den Jahren 1935–1980 eine eigene bilinguale Zeitschrift namens Intercâmbio (Austausch) ins Leben. Gründer der Pró-Arte und Herausgeber der Zeitschrift war Theodor Heuberger, der als Verfechter des Bauhauses bekannt war.19 In der ersten durch ihn organisierten Ausstellung im Jahr 1924 zeigte er in mehreren Städten Brasiliens die Werke der Münchener Neuen Secession und des deutschen Handwerks. Die Ausstellung nannte er Arte e Arte Decorativa Alemã (Deutsche Kunst und Kunsthandwerk), wobei er den Titel offenbar als Hinweis auf die Abschaffung der Grenzen zwischen bildender Kunst und Kunsthandwerk nach dem Vorbild des Bauhauses wählte.20 Mit der Anerkennung der kuratorischen Arbeit Heubergers folgten weitere Ausstellungen der deutschen Moderne, wie Arte Decorativa Alemã (Deutsches Kunsthandwerk) an der ENBA, in der trendsetzende Bauhaus-Designobjekte erst in Rio, später dann auch in São Paulo einem breitem Publikum präsentiert wurden.21 Die Zeitschrift Intercâmbio, die Heubergers kuratorische Arbeit im Land unterstützte, sollte als Austauschplattform von brasilianischer und deutscher Kunst und Kultur wirken, aber auch eine Brücke zwischen den verschiedenen Gattungen der Kunst schlagen. In der Zeit ihres Bestehens gelang es der Pró-Arte eine wichtige Rolle im Kulturleben Rios einzunehmen. Da die Künstlervereinigung einen gewissen Kultstatus in den Architekten- und Künstlerkreisen erreicht hatte, konnte sie eine starke Auswirkung auf die Verbreitung und Formung der brasilianischen Moderne erzielen.
Im Angesicht der wenigen Zeitschriften, die zu Anfang der dreißiger Jahre über die moderne Architekturbewegung berichteten, entschied sich der deutsch-jüdische Architekt und ehemalige Bauhaus-Student Alexandre Altberg eine eigene Zeitschrift unter dem Namen base – revista de arte, técnica e pensamento herauszugeben. Altberg war nicht nur der Hauptinitiator der Zeitschrift, sondern finanzierte die erste Ausgabe, schrieb mehrere Artikel, fotografierte die Werke und übernahm aus Kostengründen auch die Typografie. Auf diese Weise hatte er Einfluss auf die Gestaltung der Zeitschrift und nutzte ihn, um die Prinzipien der Bauhaus-Gestaltung anzuwenden. Die starke Anlehnung der base an die Bauhausbücher und an die dem Bauhaus nahestehende Zeitschrift die neue linie22 ist nicht zu leugnen. Altberg, der bereits über typographische Erfahrung durch die Teilnahme an der Redaktion des Katalogs zur Proletarischen Bauausstellung in Berlin und später an der für die brasilianische moderne Architektur besonders bedeutende Ausstellung, dem 1° salão de arquitetura tropical (1. Salon tropischer Architektur), verfügte, verwendete ausschließlich die Kleinschreibung, was am Bauhaus seit Einführung der Universalschrift von Herbert Bayer (1925) zum Programm gehörte: „wir schreiben alles klein, denn wir sparen damit zeit. außerdem: warum 2 alfabete, wenn eins dasselbe erreicht? warum großschreiben, wenn man nicht groß sprechen kann?“23 Als Schrift nutzte er neben der Kombinationsschrift von Josef Albers für Werbeanzeigen vorwiegend die „sturm blond“ des Bauhaus-Typographen Herbert Bayer – eine Schrift, der zwei geometrische Formen zu Grunde liegen: Kreis und Linie. Die Linie, als schwarzer, vertikaler oder diagonaler Balken, wird im Layout der base auch zur Betonung und Abgrenzung aufgegriffen.24 Den Inhalt setzte er in klar strukturierten Blöcken, wobei die Vertikalen und Horizontalen koexistieren und kontrastieren. Altberg versuchte in der Zeitschrift nicht nur die neue Architektur, oft am Beispiel eigener Bauten, zu präsentieren, sondern auch eine Verknüpfung zu Kunst und Handwerk herzustellen und von der Interaktion verschiedener künstlerischer Gattungen zu überzeugen.
Noch während der ersten Jahre in Rio bemühte sich Altberg als Architekt und Publizist die Bauhaus-Ideen zu propagieren und sah in der Verwendung der für Brasilien innovativen Formensprache offensichtlich eine Chance für seine Anerkennung als Architekt, dort „wo die Ideen immer noch sehr rar waren.“25 Sein Verdienst lag jedoch hauptsächlich in der publizistischen Vernetzung und Verbreitung der Inhalte der deutschen Moderne. Sowohl die Herausgabe der Zeitschrift base als auch des Katalogs des 1° salão de arquitetura tropical markieren Meilensteine im Prozess ihrer Veröffentlichung, wie auch wichtige Schritte in der Konstituierung der Ästhetik der Moderne.
Neues Bauen in Brasilien
Trotz des eifrigen Anfangs in Brasilien schaffte es Altberg nicht, sich dauerhaft als Architekt zu etablieren. Ähnlich wie Warchavchik resignierte er angesichts des antisemitischen Gegenwinds vor dem Kampf um Aufmerksamkeit der brasilianischen Auftraggeber und Kollegen, wenngleich sich das Bauhaus auch in Brasilien für die immigrierte Avantgarde zu einem Symbol der Freiheit und eines sozialdemokratischen Lebensstils entwickelte und die Anwendung der Bauhaus-Ideen Programm wurde. An diese Stelle können neben den Projekten wie die Casa Vertecz oder Casa Rua Joana Angélica von Altberg in Rio de Janeiro, das Instituto Normal da Bahia von Alexander Buddeus in Bahia,26 die Residência Gerhard H. W. Karl von Willy Stein und die Residência Johan Wihan von Robert Wihan im Süden des Landes,27 oder die durch deutsche Auftraggeber initiierten Projekte, wie die Residência Nordschild oder die Residência Max Graf des in São Paulo lebenden Architekten Warchavchik aufgezählt werden.28
Warchavchik, der in der Ukraine geboren und 1923 nach São Paulo ausgewandert war, lernte kurz nach seiner Einreise den Kreis der Modernisten kennen. In den folgenden Jahren errichtete er seine ersten, eindeutig an die Architektur des Bauhauses angelehnten Häuser.29 In diesen experimentierte Warchavchik intensiv mit dem einfachen Kubus, der durch Windfang-ähnliche, aus der Flucht der Fassade herausragende Bänder, ergänzt wurde. Die Fassade wurde asymmetrisch, dem Grundriss folgend konzipiert, was die unterschiedlichen Fensterformen betonte. Gleichermaßen wurden die unter anderem von Walter Gropius oft verwendeten Eckfenster übernommen, die den Blick des Betrachters um die Ecke weiterführten und zur Umrundung einluden. Die von Warchavchik angewandten Motive eines dezentralen Eingangs mit L-förmigen Bauelementen, die zum Beschreiten und Unterschreiten einluden, sowie die Interaktion zwischen geschlossenem und geöffnetem Raum der Flächen und ein Sonne-Schatten-Spiel waren weitere von Bauhaus-Architekten häufig angewandte Merkmale. Sie sind am besten am Beispiel des „Baukasten(s) im Großen“ nachzuvollziehen, ein Projekt, das spätestens seit der Ausstellung von 1923 und der Publikation Internationale Architektur von Gropius weltweiten Ruf erlangte.
Insbesondere die Residência Max Graf, in der sich Warchavchik dem Thema des Würfels näherte, zeigt hier ein interessantes Beispiel: Die Komposition der Residenz ist möglichst einfach gehalten und besteht aus einem Kubus. Das Haus hat beinahe die Form eines Würfels, dem ein L-förmiges Vordach vorgelagert ist, dem ein kleinerer Kubus gegenübergestellt und dessen Zugehörigkeit zum Gesamtkonzept durch eine Verbindungsmauer kenntlich gemacht wurde. Die Verteilung der Fensteröffnungen folgt dem Grundriss. Warchavchik verzichtete auf die Planung eines Flures; die Wohnbereiche wurden funktionell voneinander abgetrennt. Das Gesamtkonzept, die Gestaltung der Fassaden sowie die Disposition des Grundrisses und die formale Verbindung gegenübergestellter Volumina kann die Nähe zum Entwurf „Der Rote Würfel“ von Farkas Molnár nicht leugnen. Das Konzept, das in der Endphase des „Baukasten(s) im Großen“ entstand und schnell Anerkennung gewann, wurde sowohl auf der Internationalen Architekturausstellung von 1923 als auch in mehreren Veröffentlichungen von Gropius publik gemacht.30 Die Fassade des Max-Graf-Hauses war interessanterweise ebenfalls in rot und weiß gestrichen, was einmal mehr den Vergleich zum ikonischen Entwurf Molnárs ins Gedächtnis ruft.