Breiten Raum nahm in Ittens Vorkurs auch das Studium der grundlegenden „Formcharaktere“ – Quadrat, Dreieck und Kreis – und deren Beziehung zu den Grundfarben Rot, Blau und Gelb ein. „Bei null anfangen“, also ganz elementar beginnen, ist eine jener nachgerade sprichwörtlich gewordenen Maximen der Bauhaus-Pädagogik. Nachdem die Studenten die Grundformen zunächst motorisch durch Körperbewegungen „erlebt“ hatten (entspannt schwingend oder gespannt eckig), mussten die gestalterischen Möglichkeiten von Quadrat, Dreieck und Kreis in systematischen Übungsreihen und Kompositionsstudien durchgearbeitet werden: Kompositionen im Quadrat-, Dreieck- oder Kreischarakter, Kombinationen von zwei oder drei Charakteren, Formteilungen im Quadrat-, Dreieck- und Kreischarakter – Übungen, die dann zu intensiven Proportionsstudien und dreidimensionalen Formstudien überleiteten. Zu betonen ist, dass für Itten diese stereometrischen Kompositionen keine „utopischen“ Architekturmodelle darstellten, wie sie damals, nach dem Krieg, bei progressiven Architekten im Umkreis des Berliner Arbeitsrats für Kunst und der Novembergruppe entstanden, und ferner, dass sie auch nicht als zielgerichtete Vorübungen im Rahmen der Ausbildung zukünftiger Architekten gemeint waren, sondern dass sie im Sinne der skizzierten Orientierung des Vorkurses dem Erwerb allgemeinster Einsichten in die grundlegenden Beziehungen zwischen Körper und Raum dienen sollten.
Das gleiche gilt für jene oft skurril anmutenden Materialmontagen aus Fundstücken von Müllhalden oder Schrottplätzen, die im Umfeld des Dadaismus zu orten sind und zum Teil einen ausgesprochen spielerischen Charakter zeigen. Frei von außerästhetischen Verwertungsansprüchen boten derartig spielerische Übungen den Studenten die Möglichkeit zur ungezwungenen Verwirklichung ihres eigenen kreativen Potentials und mithin zur Erfahrung ihrer anthropologischen Möglichkeiten, ganz im Sinne des Diktums Friedrich Schillers, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Nach grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Gropius und Johannes Itten über den zukünftigen Kurs der Schule – Gropius suchte nach einer sozial motivierten „neuen Einheit“ von Kunst und Technik, Itten hingegen dachte primär an die Entfaltung und Stärkung künstlerischer Individualität im Rahmen einer „musischen“ Erziehung – schied Itten zu Ostern 1923 aus dem Bauhaus aus, das er in der Gründungsphase entscheidend mitgeprägt hatte.
László Moholy-Nagy
Sein Nachfolger als Leiter des Vorkurses wurde der ungarische Universalkünstler László Moholy-Nagy. Mit seinem betont rationalen gestaltungspädagogischen Konzept wurde er zum maßgeblichen Vollstrecker des von Gropius ab 1922/23 angestrebten Kurswechsels des Bauhauses im Sinne einer stärkeren Orientierung der Lehranstalt in Richtung Technik und Industrie. Dem expressionistischen Überschwang, den sozialutopischen Proklamationen und den von Mittelaltersehnsucht durchzogenen Heilsvorstellungen der Gründungsphase der Schule setzte Moholy sein von Technikbejahung, ja Technikbegeisterung getragenes und formal dem Konstruktivismus verpflichtetes Kunstwollen entgegen, das nicht nur auf eine Erneuerung der Produktkultur „mit zeitgemäßen Mitteln“ zielte, sondern die Hoffnung einschloss, den einzelnen Menschen, und mehr noch, die Gesellschaft als Ganzes positiv verändern zu können. In diesem intendierten Prozess der Veränderung kam der Kunst als „indirektem Erziehungsmittel“, als Vehikel der sensorischen und kognitiven Differenzierung, entscheidende Bedeutung zu.
Trotz seiner positiven Haltung zur modernen, von Maschinen bestimmten und hochgradig arbeitsteilig organisierten Lebenswelt unterzog er das Erziehungssystem seiner Zeit einer entschiedenen Kritik. So beanstandete er, dass die unter dem Diktat gesellschaftlicher Arbeitsteilung und beruflicher Spezialisierung stehende Erziehung zum „sektorenhaften Menschen“ derart vorangeschritten sei,
„dass der Mensch dabei verkümmert. [...] Der sektorenhafte Mensch muß wieder in dem zentralen, in der Gemeinschaft organisch wachsenden Menschen fundiert sein: stark, offen, beglückt, wie er in seiner Kinderzeit war. Ohne diese organische Sicherheit sind die reichsten Differenzierungen des Fachstudiums [...] bloßer quantitativer Erwerb, ohne dass damit die Lebensintensität gesteigert, der Lebensumkreis erweitert wird. [...] Die Zukunft braucht den ganzen Menschen.“8
Diese Idealvorstellung des „ganzen Menschen“ war keineswegs originell. Historisch lässt sie sich bis ins antike Griechenland zurückverfolgen, und sie deckte sich mit den Maximen zahlreicher fortschrittlicher Kunstpädagogen des späten 19. Und frühen 20. Jahrhunderts, zu denen am Bauhaus auch Itten gehört hatte. Bei seinen pädagogischen Reflexionen ging Moholy von der folgenden anthropologischen Prämisse aus:
„Ein jeder Mensch ist begabt. Jeder gesunde Mensch hat ein tiefes Vermögen, die in seinem Mensch-Sein begründeten schöpferischen Energien zur Entfaltung zu bringen. [...] Ursprünglich ist ein jeder begabt zur Aufnahme und Erarbeitung von Sinneserlebnissen.“9
Die Voraussetzung zur Verwirklichung eines pädagogischen Konzeptes, das auf einem offenen Begabungsbegriff, also auf der These von der grundsätzlichen Möglichkeit der schöpferischen Entfaltung eines jeden Individuums fußt, sah Moholy am Bauhaus insofern gegeben, als diese erste deutsche „Hochschule für Gestaltung“ (so der Beiname der Lehranstalt in Dessau) „nicht das ‚Fach‘ an den Beginn seiner Lehre stellt, sondern den Menschen in seiner natürlichen Bereitschaft, das Lebensganze zu erfassen.“10
Folgerichtig hatte das erste Jahr am Bauhaus nach Moholy vor allem „der Entwicklung und Reifung von Sinn, Gefühl und Gedanken, insbesondere bei jenen jungen Menschen, die infolge der üblichen Kindheitserziehung eine unfruchtbare Häufung lexikalischen Wissens hinter sich hatten“, zu dienen. Und selbst die Fachausbildung in einer der Bauhaus-Werkstätten sollte als Gesamtziel den „totalen Menschen“ im Blick behalten, den Menschen, „der von seiner biologischen Mitte her allen Dingen des Lebens gegenüber wieder mit instinktiver Sicherheit Stellung nehmen kann; der sich genau so wenig von Industrie, Eiltempo, Äußerlichkeiten einer oft mißverstandenen ‚Maschinenkultur‘ überrumpeln läßt, wie der Mensch der Antike die Sicherheit hatte, sich den Naturgewalten gegenüber zu behaupten.“11
Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass in hochentwickelten Industriegesellschaften Primärerfahrungen zunehmend durch Sekundärerfahrungen ergänzt bzw. überlagert oder gar ersetzt werden, forderte Moholy für die Bauhaus-Erziehung, die den schöpferischen Universalisten und nicht den bloß funktionierenden Spezialisten zum Ziel hatte, sie müsse „auf die primitivsten Erlebnisquellen zurückgreifen“, um zum „Lebensganzen“ zu gelangen. Im Rahmen dieser Erschließung „primitiver Erlebnisquellen“ maß er dem „Erlebnis des Materials“ durch „primitive Tastübungen“ besondere Bedeutung bei. So stand für Moholy-Nagy vor der „Schule des Schauens“ (Max Burchartz) die Schulung des Tastsinnes, das „erlebnishafte Begreifen des Materials, wie es durch das Buchwissen im üblichen Schulbetrieb und in traditionellen Unterrichtsstunden nie erreicht wurde.“12 Mit diesen im Vorkurs durchgeführten Tastübungen knüpfte Moholy zwar bei seinem Vorgänger Itten an, und doch unterschieden sich diese in einem wichtigen Punkt von jenen der Itten-Vorlehre. Während bei Itten die Materialien, die tastend erfahren werden sollten, frei „komponiert“ wurden, so dass diese Materialmontagen oft ausgesprochen pittoresk wirkten, zeichneten sich die unter Moholy entstandenen Materialuntersuchungen durch strenge Systematik, methodische Konsequenz und zum Teil quasiwissenschaftliche Zugriffsweisen aus, etwa dort, wo subjektiv Erfühltes durch sogenannte Tastdiagramme „objektiviert“ wurde. So ließ Moholy zur Schulung der haptischen Fähigkeiten Tasttafeln, -räder oder -bänder anfertigen, auf denen Materialien nach bestimmten definierten Kriterien angeordnet wurden, meist in Form von gleichzeitig greifbaren zweizeiligen „Skalen“, z.B. von glatt zu rau oder von spitz zu stumpf.
Den erwähnten Tendenzen zur Systematisierung und rationalen Durchdringung sinnlicher Elementarerfahrungen entsprach auch Moholys Bemühen, die stofflichen Erscheinungsweisen der Materialien terminologisch zu unterscheiden und definitorisch zu präzisieren. Dabei ging es ihm um eine möglichst eindeutige Sprachregelung der umgangssprachlich uneinheitlich benutzten Begriffe Struktur (innerer Gefügeaufbau), Textur (Epidermis natürlich) und Faktur (Epidermis künstlich). Zu „pädagogischen Zwecken“ ließ Moholy Fakturübungen mit unterschiedlichsten Werkstoffen und Werkzeugen durchführen. So wurden beispielsweise Papier oder Karton so bearbeitet, dass diese glatten Materialien reliefartige Oberflächen erhielten.
Neben den Übungen zur haptischen und optischen Sinnesschulung stellten die dreidimensionalen Konstruktionsübungen einen zweiten Schwerpunkt der „allgemeinen Elementenlehre“ Moholys dar. Zeichneten sich die dreidimensionalen, aus Fundobjekten zusammengesetzten Materialassemblagen, die unter Itten entstanden, oft durch skurrilen Charme und humorvolle Pointen aus, so galt es bei den Konstruktionsübungen unter Moholy-Nagy, Probleme von Körper und Raum systematisch zu untersuchen und konstruktiven Lösungen zuzuführen. Das heißt, dass diese Übungen aus Holz, Blech, Glas, Draht und Schnüren „primär der Erziehung des bildnerischen Empfindens und Denkens in Bezug auf Konstruktion, statische und dynamische Momente, Balance und Raum“ dienten und mithin „von elementarer Bedeutung für die spätere Praxis auf allen Gebieten des Gestaltens“13 waren.
Dabei spielte die Reduktion der Masse eine zentrale Rolle. In der Tat war die Verringerung des Volumens ein Thema, dem am Bauhaus das besondere Interesse galt. Erinnert sei nur an die tendenziell transparenten Architekturen von Gropius (besonders spektakulär der Glasvorhang des Werkstattflügels des Dessauer Bauhaus-Gebäudes) oder an die gleichsam entmaterialisierten Stahlrohr-Sitzmöbel von Marcel Breuer. Demgemäß ließ Moholy im Vorkurs Konstruktionen aus Holz, Metall, Glas und Kunststoff erarbeiten, die bei drastisch reduziertem Materialaufwand alles Blockhafte zu vermeiden suchten, die vielfach bis zur völligen Durchsichtigkeit getrieben waren oder die Körperhaftes lediglich als Liniengerüst andeuteten. Diese Übungen zur Raumerfahrung, die ohne den Einfluss der „Raumkonstruktionen“ russischer Konstruktivisten (Gebrüder Stenberg, Rodtschenko) und natürlich ohne Moholys eigene experimentelle Gestaltungspraxis nicht denkbar sind, reflektierten jenes am Bauhaus seit Mitte der 1929er Jahre nachhaltig spürbare Bemühen um eine durchgreifende Ökonomisierung der Mittel. Dazu Moholy:
„Der gestrige Künstler kümmerte sich wenig z.B. um exakte Gewichtsberechnung seiner Arbeit. Auf einige Kilogramm oder gar Zentner Gewicht kam es bei einer älteren Plastik gar nicht an. Im Bauhaus lernte man auch auf diese Komponente achten, und jedes Gramm Ersparnis – bei gleichbleibender Wirkung – bedeutete oft einen kleinen Sieg des Erfinderischen.“14