Es ist eine Einladung zur Gastkritik: Bauhausstudierende sitzen gemeinsam mit ihrem Lehrer Josef Albers vor den an die Wand gepinnten Vorkursarbeiten: Objekte aus unterschiedlichsten Materialien, gefunden auf Streifzügen in Dessau und nun hier im Bauhausgebäude neu zusammengetragen, kombiniert und präsentiert.
Die Studierenden waren aufgefordert den Klassenraum zu verlassen und die Welt des Materials studieren, um danach mit geschärfter Aufmerksamkeit zurückzukehren in den Unterricht. Was als unbedeutende und unscheinbare Sache in der Peripherie des Blickes erschien, wurde plötzlich zu einem wertvollen Artefakt. Zusammengetragen nach konzentrierter Beobachtung im Feld, wurden die Materialkombinationen zum Gegenstand sorgfältiger Überlegungen. Der Raum der pädagogischen Reflexion war nicht der der Wörter, sondern hier trafen Muster und Strukturen in direkten Kontakt mit Materialien. Zu den Arbeitsweisen eines solchen Studiums gehörten Berühren, Zerreißen, Überlagern und Zusammenkleben.
Nicht die Wiedergabe von Wissen, die Anwendung von Regeln, auch nicht reine Intuition oder gefühltes Wissen interessierten den Lehrer, vielmehr ging es Albers um die Schulung aller Sinne, insbesondere der visuellen und motorischen Sinne. Mit diesem Herangehen schulte er das Fragen und Suchen, weckte Interesse für die Wahrnehmung des Materiellen und regte damit nicht zuletzt zum selbstständigen „Beobachten und Formulieren“1 an.
Josef Albers formulierte es so:
„Wissen ist Macht. Ich verurteile diesen Satz als die gefährlichste pädagogische Irrlehre, wenn es auch viele nicht so verstehen wollen. Was ist ,Wissen‘? Nicht Können noch Kennen, nicht Sehen noch Schauen, weder Bauen noch Bilden. Es ist Besitz von sogenannten Fakten, die man teuer in Schulen und Büchern kaufen kann, sammelt und häuft, um sie zuerst im Examen wiederzugeben und, danach vielleicht auch, um etwas besser zu verstehen.[…] Ich empfehle statt ,Wissen ist Macht‘ für die Erziehung den Satz ,Sehen ist Kraft‘, und zwar Sehen im Sinnen des englischen ,seeing‘, was mehr schauen meint. Denn mir scheint eine visuelle schöpferische Erziehung eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit zu sein.“2
Wissen war ein Un-Wort am historischen Bauhaus. Schließlich bildete epistemologische Skepsis das Fundament des Staatlichen Bauhauses. Prägend für die Gründer als auch deren Studierende war die erschütternde Erfahrung des Ersten Weltkrieges: die zerstörerische Kraft maschineller Rationalität hatte zu einer Art Tabula Rasa-Situation geführt, die jeglicher Erfahrung und vorhandenem Wissen misstraute.
In diesen epistemischen Verhältnissen eines grundsätzlichen Skeptizismus gegenüber der bestehenden Wissensordnung verfolgte die Bauhausschule zunächst das „Entlernen“, die Aufgabe von konventionellem Wissen und die Förderung vorsprachlicher, intuitiver, kindlicher Zugänge. Es ging insofern nicht lediglich um neue Lernformen, sondern um einen vollkommen anderen Zugang zum Wissenserwerb. Insbesondere der Vorkurs – von Johannes Itten in Weimar eingeführt und von Josef Albers und László Moholy-Nagy im Dessauer Bauhaus fortgesetzt – war Reaktion auf diese Entwertung von Wissen.3 In diesem Vakuum bot der Vorkurs ein Testfeld, einen Raum, um Erfahrungen zu machen durch Sensibilisierung der Sinne, durch haptischen Umgang mit unterschiedlichsten Materialien, durch körperliche und geistige Übungen zur Stabilisierung der Psyche.
Otti Berger – Bauhausstudentin und später eine der erfolgreichsten Textilkünstlerinnen – brachte diese Haltung des „Entlernens“ in einem Interview als Teil einer Umfrage zum Ausdruck, welche das Bauhaus Magazin 1928 mit Studierenden führte. Auf die Frage, wo sie vorher studiert oder gearbeitet habe, antwortete sie, „aus einer geistlosen Stätte der Überlieferung“. Gefragt nach ihren Erwartungen an das Bauhaus gab sie zurück: „um mich zu überwinden und das ich zu finden.“4
Eine geistlose Stätte der Überlieferung? Es ging um den Bruch mit in Lernsituationen der historischen École des Beaux-Arts manifestierten Bildungskonventionen: dem Aktzeichnen, dem Naturstudium oder der Imitation von Formen der an römischen und griechischen Gipsstatuen geschulten westlicher als klassisch und universell gültig verstandener Schönheitsideale. Dieses Modell der Kunstausbildung beherrschte nicht nur die Akademien der westlichen Großstädte, sie wurden auch in die Metropolen der Kolonien exportiert. Schließlich war die Erziehung eine zentrale Säule des kolonialen Projekts der Behauptung kultureller Superiorität des Westens.5
Dabei war das historische Bauhaus bereits Teil einer breiten Schulreformbewegung, die einen Paradigmenwechsel in der Kunstausbildung initiiert hatte: weg vom Lernen nach Konventionen und der Imitation tradierter Formenkanons, wie dies an den Kunstakademien gängige Praxis war, und hin zur Entfaltung der potentiell jedem zugesprochenen Kreativität und Phantasie als integraler Agenda einer demokratischen Gesellschaft. Der Kunsttheoretiker Thierry de Duve zieht das Fazit: Alle fortschrittlichen Pädagogiken dieses Jahrhunderts, von Fröbel über Montessori bis Decroly, alle Schulreformer und Bildungsphilosophen von Rudolf Steiner bis John Dewey gründeten ihre Projekte und Programme auf Kreativität, oder besser gesagt auf dem Glauben an Kreativität, auf der Überzeugung, dass Kreativität – nicht Tradition, nicht Regeln und Konventionen – der beste Ausgangspunkt für Bildung ist.6
Taktilität
„wir wollen keine bilder, sondern wir wollen zum bestmöglichsten, endgültigen, lebendigen stoff kommen![…] man muß ihn mit den ‚händen‘ begreifen können! Der wert eines stoffes ist im taktilischen, im tastwert erkannt werden[…]. man muss den geheimnissen des stoffes lauschen, den klängen der materialien nachspüren, man muss die struktur nicht nur mit dem gehirn erfassen, sondern mit dem unterbewußtsein erfühlen[…].“7
Bergers Plädoyer für die Bedeutung des Taktilen als Modus der Wissensgenerierung weist weit über das Medium des Textilen hinaus. Sie hatte bereits im Vorkurs bei Moholy-Nagy das Arbeiten mit und durch das Material erfahren. Dieser wiederum nahm ihre Tasttafel in sein die Lehre am Bauhaus zusammenfassendes Buch Vom Material zur Architektur auf. Das Buch ist auch eine pädagogische Programmschrift, in deren Zentrum die Frage nach der Findung eigenständiger schöpferischer Ausdrucksformen steht. „Primitive Tastübungen“ als Anfänge der Grundlehre seien gerade deshalb für die Bauhauserziehung so essentiell, weil, so Moholy-Nagy, „heute noch die meisten – fern von eigenen erlebnissen – ihre welt aus sekundären quellen aufbauen“.8 Ein Argument welches sich auf die Formierung der materiellen Kultur der Industriegesellschaft bezog: Die Zusammenhänge zwischen Alltag, Gebrauch und Herstellung der materialen Umwelt wurden mit Mechanisierung, Massenproduktion und fordistischer Arbeitsteilung zunehmend abstrakter. Künstlich hergestellte Materialien und Stoffe sowie die massenhafte Verfügbarkeit industriell gefertigter Güter und neuer Medien auf der einen, zunehmende Mechanisierung und Ablösung menschlicher Aktivität und Kontrolle durch die Maschine auf der anderen Seite unterstützen die Erfahrung der Dematerialisierung und Verflüssigung der materiellen Verhältnisse.
Für das Bauhaus Dessau waren diese Entwicklungen eine Herausforderung: Schließlich ging es um die Ausbildung von Menschen, die in der Lage waren, solche Prozesse zu gestalten. Hier wurden diese abstrakten Dynamiken quasi in den Mikrokosmos der Schule übersetzt. So sind die am Bauhaus geführten Auseinandersetzungen um den Wandel menschlicher Apperzeption eine Momentaufnahme innerhalb dieses Diskurses um eine westliche moderne Kultur und Kunst dar.