Im Konvolut der Fotografien von Konrad Püschels Reise nach Nordkorea der 1950er-Jahre ist die Aufnahme einer jungen Chemiewerksarbeiterin im Labor.23 Die Chemiewerksarbeiterin lächelt leicht. Diese Geste erzeugt einen lachenden Blick. Ihre Augen schauen nach links so als ob sie den Blick zum Fotografen richten möchte, der sie dennoch nicht von ihrer Arbeit abhalten kann. Vielmehr führt ihr Blick sie in den Raum hinein, d.h., aus der Begegnung mit dem ostdeutschen Architekten-Fotografen Püschel hinaus: Sucht sie den Blick einer Kollegin im Raum? Denkt sie an Familienmitglieder, die einen der verheerendsten Kriege des 20. Jahrhunderts überlebt haben? Sie hat einen Schreibblock vor sich, der mittig aufgeschlagen ist und auf dem sie Forschungsergebnisse dokumentieren kann. In den Händen hält sie ein Thermometer, während vor ihr ein Regal mit zahlreichen Gasflaschen, Bechergläsern und Kolben aus Glas stehen. Sie trägt einen weißen Schutzmantel. Der Raum ist lichtdurchflutet. Durch ein großes Fenster tritt Tageslicht in das Chemielabor, durchströmt das Regal mit den Laborgeräten und lässt die rechte Gesichtshälfte der Chemiewerksarbeiterin erstrahlen. Ein Moment der Arbeit, des Wartens, des Forschens und des Blickes, der auch in Markers Coréennes seinen Ort gefunden hätte. Es ist ein Moment, mit dem der Architekt Konrad Püschel aus der DDR sich ein Bild von Nordkorea macht, das heißt, von der Provinz Hamgyŏng-namdo mit den dort lebenden Menschen nach dem desaströsen Krieg, über den die Parteizeitung Neues Deutschland in der DDR täglich berichtete. Hunderte fotografischer Aufnahmen machte er zwischen 1955 und 1959 während seines Aufenthaltes. Er besuchte nicht nur die Provinzhauptstadt Hamhŭng, sondern er dokumentierte in der Provinz Hamgyŏng-namdo vier von ihm definierte Formen des Siedlungsbaus mit Blick auf Machtverhältnisse verschiedener Gesellschaftsordnungen. Beispielsweise kommentiert er den Einfluss japanischer Kolonialisierung in Korea, welche Bauten der Industrialisierung in den Meergebieten hervorbrachte, mit: „Hier spricht nicht mehr die Gestaltung, sondern nur Technik und Ökonomie.“24 Hier spricht auch ein Städteplaner, der in seinem Studium bei Hannes Meyer und Ludwig Hilbesheimer am Bauhaus in Dessau Architektur als gestalterische Praxis gelernt sowie ausgeübt hat.
Püschels Fotoalben enthalten zudem fotografische Beobachtungen von Naturlandschaften der nordkoreanischen Provinz, die Grabstätte der Eltern des Gründungskönigs Ri Song-Gä der Choson-Dynastie in der Nähe von Hamhŭng, reproduzierte Zeichnungen von Blockhäusern der Brandfeldbauern des Kaima-Hochlandes, ein gezeichneter Grundriss von Hamhŭng von 1956, etc. Im Fotoalbum sind die Landschaftsbilder teilweise zum Diptychon oder Triptychon zusammengefügt. Eine Fabrikanalage – es könnte auch eine Kolchose sein – ist in Farbe fotografiert, während alle anderen Aufnahmen im schwarz-weiß Kleinbildformat reproduziert wurden. Als ob die fotografische Beobachtung eine Anamnese einer nordkoreanischen Bauhistorie liefern könnte, um sowohl das noch wenig Existierende zu begreifen, welches der Korea-Indochina-Krieg hat nicht zerstören können, und um das Zukünftige in Hamhŭng zu planen. Denn der Wiederaufbau der Stadt Hamhŭng in Nordkorea durch die Bau-Arbeitsgruppe aus der DDR ist nicht nur ein Projekt der „brüderlichen Freundschaft“ im Kontext der internationalistisch-sozialistischen Aufbauhilfe der DDR an Nordkorea, sondern auch ein umfassendes stadtplanerisches Raumprogramm – eine Wohnstadt-Maschine wäre es zu nennen – zur Programmierung einer neuen bzw. sozialistischen Gesellschaft nach einem Krieg, der Infrastrukturen sowie Lebensräume zerstörte und Millionen von Menschen zur Flucht zwang. Mit anderen Worten, ähnlich wie die Gründung der DDR eine Konsequenz des Krieges ist, geht auch der Etablierung der DVRK ein Krieg von globaler Dimension voraus, dessen Waffenstillstand über Monate hinweg in der 1954 Geneva Conference der Vereinten Nationen ausgehandelt wurde.25 Es scheint, als ob es die Macht des Krieges ist, die den Zustand der modernistischen Idee von tabula rasa, das als modernistisches Prinzip eines Plan Voisin gilt, herzustellen vermag. Denn in Nordkorea war es ein Krieg, der die utopische Idee von tabula rasa verwirklichte, eine neue Stadt ganz von Grund auf zu errichten. Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei. Mit anderen Worten, die Kluft innerhalb Europas war ein Symptom der Neuordnung eines globalen Gesellschaftssystem, das von konkurrierenden Mächten instrumentiert wurde, von denen die deutsche Mauer nur ein Beispiel war, während die Trennung von Korea nach 1953 ein weiteres ist: „es ist naiv zu fragen, woher der Krieg kommt: Die Grenze ist der Krieg,“ stellt Marker fest.26 Der Zweite Weltkrieg war vorbei, während ein Dritter Weltkrieg bereits und sofort begonnen hatte: Der globale Kalte Krieg. Dabei ist der Korea-Krieg der erste Heiße Krieg im globalen Kalten Krieg – nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist die verheerende Zerstörungskraft dieser Kriege, welcher die Bedingung schafft, eine neue, hier, eine sozialistische Gesellschaft zu konstruieren, zu verräumlichen, zu verorten, abzugrenzen, und zu programmieren. Dong-Sam Sin, Architekt und Projekt-Dolmetscher, schreibt dazu: „Als Einrichtungen, die für das Funktionieren des Lebens in dem Bezirk zu planen sind, kommen in Frage: Bezirksverwaltung, Kulturhaus mit Kino, Post, Polizei, Sparkasse, Hotel, Gaststätten, Kaufhäuser, Poliklinik, Apotheken, Handwerkerhof, zentraler Bauhof, Kohle und andere Lagerplätze, Betrieb der Straßenreinigung und Müllabfuhr, Feuerwehr und schließlich werden für die 11 oder 12 Wohnkomplexe noch Schulen, Kindereinrichtungen, Geschäfte und Gesundheitseinrichtungen erforderlich sein. Damit sind entscheidende Grundlagen für die Planung des Stadtbezirkes gegeben und es kann richtig losgehen mit der zweiten Etappe der Arbeit in Hamhŭng.“27 Auf der durch Krieg entstandenen tabula rasa produziert diese Wohnstadt-Maschine eine sozialistisch-koreanische Gesellschaft in einer Verstrickung von administrativen, ökonomischen, vegetativen, medizinischen, logistischen, produktiven, sozialen und kulturellen Prinzipien, die dazu führen, „Korea (als) ein Beispiel für proletarischen Internationalismus“ zu besprechen.28